
Mein lieber Bruder,
Es reicht! Ich hatte dir gesagt, es könne so nicht weitergehen! Seit dem Erdbeben vor ein paar Wochen hat die Belastung sich zugespitzt und um die Farm ist es schlimmer bestellt als je zuvor. Nicht dass dir der alte Hof unserer Kindheit jemals viel bedeutet hätte! Du hättest sonst mehr Nachdruck in die Bitte an deinen Freund, den Herrn Stadtrat, gelegt, meine Besorgnis ernst zu nehmen. Der achtlose Hochmut der Stadtbewohner hat schon lange Besitz von dir ergriffen!
Zwar haben sowohl das Wohnhaus als auch die beiden wackeligen Scheunen die mächtigen Erschütterungen von Urmutter Gaia überstanden, aber die Tiere siechen seither noch schneller dahin, Thies. Ich kann die Rippen sehen, die sich unter ihrer ledrigen Haut hervordrücken.
Und auch die Kinder sind krank. Du kannst sie dir nicht vorstellen, deine Nichte und deinen Neffen, wie sie mit ihren aschfahlen Köpfchen versuchen, sich in ihr Spiel zu vertiefen, immerfort kraftlos in sich zusammensackend. Selbst zum Weinen sind sie zu erschöpft. Es ist ein kaum zu ertragendes Trauerspiel, Thies. Max muss sich ständig übergeben, doch immerhin findet er ab und zu die Kraft für einen Moment der Heiterkeit. Ida ist dagegen noch zu jung, um solche Kräfte parat zu haben. Manchmal glaube ich, den Totenschädel unter ihrem müden Gesicht zu erkennen. Ihre blonden Löckchen lösen sich von ihrer Kopfhaut und ich befürchte das Allerschlimmste.
Auch ich spüre, diese arglistige Pest in mir. Wie sie die Lebenssäfte verseucht, wie sich ihre ätzenden Gifte in meinen Blutbahnen ausbreiten und mich von innen aufzehren.
So habe ich es also getan. Keine Sekunde länger konnte ich auf eure Unterstützung hoffen. Nachdem ich so lange gegen die Taubheit der städtischen Behörden angelaufen bin und auch Du mir kein Gehör mehr geschenkt hast, bin ich der Sache selbstständig auf den Grund gegangen. Jetzt wird man etwas unternehmen müssen!
Schon Anfang des Jahres, als die ersten Anzeichen des Verfalls sich zeigten, hatte ich meinen Verdacht geäussert, dass das höllische Fabrikgelände bei den nahen Butzehügeln etwas damit zu tun haben muss. Natürlich versicherten mir alle, das Gelände sei nach dem Krieg geräumt worden und ausser Betrieb.
Nur wenige Wochen später ist auch mein liebster, aber leichtsinngier Karl verschwunden. Er habe sich aus dem Staub gemacht, behaupteten die Leute, weil er sich für meine bizarren Mutmassungen geschämt habe! Wer wolle sein Leben schon mit einem verrückten Bauersweib verbringen?
Weisst Du, Thies, am Ende habe ich diesen bösen Zungen beinahe geglaubt. Ach, wenn diese scheusslichen Gorgonenstimmen nur wüssten, wie falsch sie lagen!
Selbstverständlich hatte ich zuerst meine Zweifel. Er hatte doch das Leid seiner Kinder gesehen! Hätte er sie nicht mitgenommen und aus diesem Elend befreit? Hätte er mich nicht heftig zur Rede gestellt, wenn er den Gerüchten geglaubt hätte, ich würde sie mit üblem Hexenwerk zu Grunde richten? Und wenn er abhauen wollte, hätte er seinen Kollegen in der Schreinerei nicht davon erzählt? Doch zuletzt dachte ich tatsächlich, ich stünde vor dem Abgrund des Wahnsinns, nur ein winziger Sprung von der ewigen Umnachtung entfernt.
Aber jetzt kenne ich die Wahrheit, Thies! Es ist genau, wie ich es vermutet hatte. Es ist das Wasser! Wie damals, als wir klein waren. Nur diesmal ist die Wahrheit so abartig und grotesk, mich schauderts und Übelkeit überkommt mich, wenn ich an meine Entdeckungen zurückdenke. Selbst meine schlimmsten Albträume hätten kein solches Grauen hervorbringen können.
Ich bin eigenständig aufgebrochen; gestern Nachmittag, zu den alten Fabrikhallen. Die Kleinen habe ich zur buckligen Hertha rübergebracht, vor der wir als Kinder immer Angst hatten. Du erinnerst dich bestimmt.
Sie entpuppte sich in den letzten Jahren als herzensgutes Mütterchen und ist eine der wenigen, die meinen Worten aufrichtige Beachtung schenkt. Glücklicherweise sind meine beiden Engelchen nicht von solchen Flausen geplagt, wie wir in ihrem Alter.
Als die beiden mit genügend Keksen und Bauklötzen abgelenkt waren, das erste Mal seit Wochen wieder ausgelassen spielend, bin ich aufgebrochen. Ich wanderte den Pfad am Fluss entlang, den Vater schon damals mit uns genommen hat.
So oft hatte man uns als Kinder eingebläut, wir sollten uns von dieser Gegend fernhalten. Man erzählte uns von gefrässigen Ghulen und Trollen, die sich flussaufwärts in ihren Höhlen versteckten und den sorglosen Menschen auflauerten. Doch als wir unbedingt wissen wollten, weshalb Mama gestorben war, welches teuflische Gift sie von uns genommen hatte, beging er mit uns diesen verwunschenen Landstrich.
Schweigend lief er vor uns durch die fauligen Bäume den Fluss hinauf. Und zum Schluss wich der obskure Landschaftszauber einer schändlich kalten Realität; kein furchterregendes Fabelwesen mit niederträchtigen Plänen wartete auf uns, keine spitzigen Schlangenzähne in einem böse grinsenden Rachen, kein Ungeheuer, dem eine Gruppe mutiger Helden hätte den Kopf abschlagen können. All diese magischen Vorstellungen verblassten vor dem Anblick einer trostlosen Ansammlung von schmutzigen lehmroten Backsteingebäuden, deren Kamine wie gigantische Lanzen in den Himmel stachen. Kein widerwärtiges Wesen, sondern eine emsig vor sich hinarbeitende Gruppe von Menschen hatte ihr Gift über uns gebracht und der Grund dafür bestand nicht in einer feindseligen Absicht, sondern in banaler Unachtsamkeit. Vaters traurig erschöpfte Augen, seinen Husten und wie er sich unablässig über die gräuliche Haut hinter seinem Ohr kratzte, bis feine schwarze Blutfäden zurückblieben, werde ich niemals vergessen.
Heute ist der Pfad von Pflanzen überwuchert. Efeu und andere Gewächse rankten sich um die dicken Buchen und sogar einige Vögel zwitscherten wieder zwischen den Ästen. Nicht wie damals, als eine mulmige Totenstille die süssen Fäulnisdünste untermalte.
Beim Anblick dieses neuen Lebens überkam mich zunächst ein Gefühl des Glücks und der Erleichterung. In meinen Ohren erklang durch den Schleier der Vorstellungskraft die Flöte des Fauns und die Waldnymphen kicherten und sangen ihre altehrwürdigen Lieder. Ein Wunder, wie Zeit und Ruhe die Natur zu heilen vermögen.
Trotz meines träumerischen Auges bemerkte ich rasch die um sich greifenden Anzeichen des Verfalls. Zwar strotzten viele der Bäume vor Leben und der frische Duft eines gesunden Waldes lag in der Luft. Doch im Fluss fehlte jede Regung. Keine Otter oder Biber, keine Fische, keine Amphibien, nicht einmal Insekten bewegten sich in diesem Gewässer. Das passte zu den toten Fischen, die ich Anfang des Jahres bei uns in der Nähe des Hofes am Flussufer fand. Ich habe dir in einem meiner ersten Briefe davon berichtet. Aber das ist nicht alles.
Die Krankheit kriecht wieder aus dem Wasser. Direkt am Ufer schlingt der Tod in diesem Moment seine langen Klauen erneut um alles was wächst und kreucht. Die nahestehenden Pflanzen vergilben und in einigen Gebüschen verwesten bereits die Kleintiere, umkreist vom widerlichen Brummen der Schmeissfliegen.
Mit jedem Schritt, den ich dem Fabrikareal näherkam, schwollen Angst und Bange in mir an. Alles was ich wahrnahm, weckte in mir grausame Vorstellungen von dem, was mich am Ende des Wäldchens erwarten würde. Ich sah patrouillierende Wachposten, chlorige Dämpfe, die aus den Schornsteinen aufstiegen, quietschende Güterzüge beladen mit übergrossen Tonnen gefüllt mit ätzenden Chemikalien, ölverschmierte Handwerker und über Klemmbretter gebeugte Männer in Laborkitteln, die alle geschäftig, kreuz und quer über die Anlage hetzten.
Als ich jedoch bei den hohen Maschendrahtzäunen aus meinen Erinnerungen ankam, lag das Fabrikareal still da, eingebettet in die ersten Ausläufer der Butzehügel.
Nichts rührte sich. Allein aus den Löchern im Beton wucherte das Unkraut. Es zitterte und wiegte im Wind. Einige Kletterpflanzen wanden sich um die Stahlträger bis zu den rostigen Rohren empor, die sich zwischen den rötlichen Steinmauern der Gebäude erstreckten.
Ich weiss nicht, wie lange ich voller Ungläubigkeit auf diese Szenerie schaute.
Wurde ich wirklich verrückt?
Aber das Werk des Sensenmanns auf dem Hof und entlang des Flusses war unleugbar. Ausserdem schoss Wasser aus massigen Betonrohren in den Fluss. Wasser, das ganz offensichtlich aus diesem Areal herausströmte. Vielleicht trieb hier jemand im Verborgenen sein Unwesen. Schliesslich sehnen sich heute viele nach den vergangenen Zeiten und fantasieren einen noblen Glanz in die finsteren Machenschaften alter Herrscher. Doch ich musste Beweise finden, wenn mir jemand glauben sollte. Wenn Du und deine ahnungslosen Freunde, den Blick auch nur eine Sekunde auf diese Geisterstadt werfen solltet, die so ruchlos von den Gräueln der Vergangenheit kündet.
Also zwängte ich mich durch eines der unzähligen Löcher im Zaun auf das Gelände und schlich mit leisen, wohlbedachten Schritten über den durchwucherten Asphalt der Parkplätze, überquerte die rostigen Schienen und betrat schliesslich die verwilderten Schluchten aus roten Ziegeln, die von dieser einstigen Hochburg modernen Unheils übriggeblieben waren.
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