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Der Archivar - Teil 2 von 3


BILD_Kurzgeschichte_Der Archivar



Wären nicht so viel Leid und Angst mit diesem Ort verbunden gewesen, hätte mir das Lichtspiel des warmen Sonnenscheins womöglich eine melancholische Schönheit eröffnet. Wie die Strahlen durch das frische Grün fielen und lustig auf dem angegrauten Rot der Fabrikmauern umhertanzten. Doch in meiner Situation bestärkten sie bloss mein Unbehagen.

     Ich folgte den gurgelnden Abwasserkanälen, die sich in regelmässigen Bahnen quer durch das Areal streckten. Ständig auf der Hut lauschte ich angespannt auf Schritte oder Stimmen. Ich hielt Ausschau nach entzündeten Lichtern und horchte, ob in einem der Gebäude Maschinen rasselten.

     Unbehagen begleitete jeden meiner Schritte. Auf keinen Fall wollte ich hier von Fremden überrascht werden. Dank der harten Feldarbeit schaffe ich es zwar problemlos, jugendliche Eierdiebe zu vertreiben, aber einer heimtückischen Attacke mehrerer stämmiger Mistkerle wäre ich wehrlos ausgeliefert gewesen. Ich fürchtete die massigen Hände, die mich aus dem Hinterhalt packten. Die kalte Klinge, die sich an meinen Hals legte. Die Stiefel, die mich traktierten. Das finstere Kellerloch, in dem ich verschwinden würde. Das Elend, meine geliebten Kinder nie wieder zu sehen. Aber alles lag da wie ausgestorben. Allein der kühle Wind spukte pfeifend um die Fassaden und vereinzelt gurrten unsichtbare Tauben von den Dächern.

     Bald führte mich einer der Kanäle an das hintere Ende des Geländes, wo ein wenig abgelegen ein letztes heruntergekommenes Backsteinhaus stand. Würden Menschen der Gegenwart mit derselben Vorstellungskraft Märchen erzählen, wie die Alten es taten, inspirierte dieses Gebäude unzweifelhaft das unselige und verdorbene Heim grässlicher Lamien und Inkuben. Dahinter bildeten die steil emporstrebenden Flanken der Butzehügel eine natürliche Sackgasse. Aus ihren Höhen strömten mehrere Bächlein und sammelten sich in dem Kanal, der mich hergeführt hatte. Das Wasser zog seitlich am Gebäude vorbei und floss tiefer ins Areal in Richtung des Flusses. An manchen Stellen gluckste und blubberte es. Ein fürchterliches Omen, das ich zu jenem Zeitpunkt noch nicht zu deuten vermochte.

     Auf dem Schild am Eingang verblasste ein Schriftzug zwischen klebrigen Flechten und Schimmelflecken: «Abteilung für menschliche Physiologie und Biochemie». Die massive Stahltür stand offen.

     Im Inneren herrschten Staub und Stille. Durch einzelne verdreckte Fenster fiel spärliches Licht. Es gab keine Hinweise, dass jemand vor Kurzem noch hier gewesen sein könnte. Weder Ratten noch Schaben krochen den Wänden entlang.

     Ich kann dir nicht sagen, was mich dazu trieb hineinzugehen. Ich kann auch nicht sagen, was ich suchte oder zu finden hoffte. Es überkam mich plötzlich eine Aufregung, eine geradezu körperliche Vorahnung, hier am Ursprung des Grauens angekommen zu sein.  

     Planlos irrte ich durch eine kleine Eingangshalle und fand hinter einer quietschenden Holztür ein verlassenes Labor. Glaswaren, Geräte und einzelne Flaschen mit Flüssigkeiten und Pulvern standen chaotisch im Zeug herum, als wäre alles fluchtartig zurückgelassen worden. Eine Glasfront trennte das Labor von einem Bürobereich. Aus einem Kühlschrank troffen schleimige Fäden und ein abscheulicher Gestank nach ranziger Butter und fauligen Eiern hing in der Luft.

     Über ein enges, fensterloses Treppenhaus gelangte ich in die oberen Stockwerke. Ich traute mich nicht, meine Taschenlampe anzumachen, doch meine Augen gewöhnten sich bald an die trübe Dunkelheit, wenngleich immer wieder stechende Dämpfe oder beissender Staub mir die Tränen in die Augen trieben.

     Die Apparaturen in den Laboren wurden grösser und abartiger. In einigen reihten sich deckenhohe Tanks den Wänden entlang. In einem weiteren Korridor befanden sich dicke Metalltüren wie in einem Gefängnis, allesamt verschlossen. Andere Gänge ähnelten Arztpraxen mit Operationssälen und Zahnarztstühlen und je länger ich durch dieses düstere Labyrinth wandelte, desto mehr ergriffen mich Ekel und Entsetzen. Ich konnte regelrecht spüren wie die lähmende Angst mit ihren grabschenden Tentakeln glitschig und saugend über meinen Körper tastete und einen Weg in meinen Körper suchte. Doch ich schüttelte sie von mir ab, denn was für Perversionen sich hier auch zugetragen hatten, nichts davon erklärte das Leid meiner kleinen Lieblinge, die wahrscheinlich gerade zufrieden bei Hertha auf dem Teppich dösten.

     Im obersten Stockwerk des Gebäudes führte mich eine Gabelung in einen Büroflügel. Der hinterste Raum besass mehrere grosse Fenster und was das hindurchfallende Sonnenlicht offenbarte, liess mich stocken: Tiefe Furchen in Staub. Blätter und Aktenordner lagen kreuz und quer im Raum. Stühle, Tische, Kästen und Aktenschränke waren verschoben. Dieser Raum war durchsucht worden und es konnte nicht allzu lange zurückliegen.

     Hastig sammelte ich einige der Dokumente zusammen und steckte sie in meinen Rucksack. Ich achtete nicht darauf, was sie aussagten. Die wissenschaftlichen Zeichnungen und Ausführungen hätte ich ohnehin nicht verstehen können, doch womöglich enthalten sie Beweise für die Schrecken dieses Ortes.

     Anschliessend schlich ich noch vorsichtiger durch die Gänge. Auf der anderen Seite des Treppenhauses führte ein Korridor an weiteren Laboren vorbei. Diese wirkten älter als die bisherigen. Klobige Geräte mit scharfen eingespannten Klingen waren auf den Tischen platziert und überall sammelten sich grössere und kleinere Phiolen, in denen sonderbar glibberige Klumpen in zähflüssigen Substanzen schwammen.

     Über eine Rampe gelangte ich durch eine marode Holztür in eine Lagerhalle. Mit jedem Schritt in den Raum ächzte der Boden, wie ich es noch nie bei einem Steinboden vernommen hatte. Zu meiner Rechten stapelten sich blaue Kunststofffässer auf Holzpaletten hinter mehreren Gitterabteilen. In der mir nahegelegenen Ecke zu meiner Linken führte eine Stahltreppe auf die unteren Etagen. Erst dann fiel mein Blick auf das Loch.

     In der Mitte des Raumes klaffte eine gewaltige schwarze Öffnung. Kantige Bruchstellen umringten die Leere, wo ein beträchtlicher Teil des Bodens der Schwerkraft nachgegeben hatte.

     Behutsam, aber rasch bewegte ich mich zurück zur Wand, wo der Boden einen widerstandfähigeren Eindruck machte, und wandte mich dann instinktiv zur Treppe.

     Die Vorahnung, dem düsteren Grund unseres Leidens auf der Spur zu sein, stachelte mich an. Hier musste es sein! Auch wenn ich die fürchterlichen Eindrücke dieses unbelebten Ortes nicht wirklich zu einem Ganzen zusammenführen konnte.

     Das Metall knarzte grell. Meine Gliedmassen begannen sich zu verkrampfen und ein nebelhaftes Schwindelgefühl umfing mich. Trotzdem schien die Vorrichtung stabil. Also wankte ich abwärts, dem Erdgeschoss entgegen, eine Hand stets griffbereit am Geländer, für den Fall, dass meine Beine oder die Treppe plötzlich nachgeben sollten. Auch auf den anderen Etagen befanden sich Lagerhallen und das Loch zog sich durch alle hindurch. Erst als ich meinen Fuss auf dem festen Untergrund des Erdgeschosses absetzte, beruhigten sich meine Nerven und meine Muskeln lockerten sich. Doch die Entspannung sollte bloss von kurzer Dauer sein.

     Die Fenster dieser ebenerdigen Halle waren durch Efeu und andere Flora beinahe zugewachsen. Die einzelnen Strahlen, die sich hindurchpressten, tönten den Raum in ein finsteres Blau. Zwischen den schattigen Konturen massiver Regale, die senkrecht von den Wänden abstanden und in den Raum strebten, kauerte etwas. Ich glaubte, einen Kopf und einen Buckel zu erkennen, eine seltsam verdrehte Extremität. Furchterregende Bilder von Kobolden, Gnomen und Goblins blitzen vor meinem inneren Auge auf, doch die Gestalt regte sich nicht.

     Langsam näherte ich mich und mit jedem Atemzug tat die unbarmherzige Realität ihr Werk. Wie damals als jugendliche Frau entzauberte sie vor meinen Augen die fantastischen Schrecken, nur um derart fürchterliche Gegebenheiten zu offenbaren, vor denen wir uns selbst in unserer Fantasie zu bewahren suchen.

     Dieses Ding, das da vor mir lag, war keineswegs eine düstere Märchengestalt. Es war ein Mensch. Ein gefallener, zerschmetterter Mensch, der versucht hatte, mit angezogenen Beinen und Armen seinen Fall zu mindern. Doch sein Fleisch und seine Knochen hatten gegen den Asphalt verloren. Und kaum stand ich über diesem bedauerlichen Bündel, entrannen mir unkontrollierte Schmerzensschreie. Tränen schossen mir in die Augen und mein Gesicht verkrampfte sich von dem unsäglichen Kummer, den ich empfand. Nicht nur handelte es sich um einen Menschen, Thies! Es war ein Mensch, den ich kannte! Ein Mensch, den ich liebte. Es war niemand geringeres als Karl.

     Von wegen Karl war weggelaufen! Karl war nicht weggelaufen! Weder vor mir, noch vor den Kindern oder unserer misslichen Situation! Er hatte gehandelt, weil ihr alle nicht zugehört habt! Weil ihr nicht gehandelt habt! Er war losgezogen, um Beweise zu finden, dass dieses verfluchte Fabrikareal noch immer sein Gift in die Gewässer pumpt. Seine Liebe für mich, die Kinder und sein Leben auf dem Hof war real. Ich habe es mir nicht eingebildet. Er hatte mir geglaubt!

Wie lange ich neben Karl weinte kann ich im Nachhinein nicht einschätzen. Ich wollte ihn umarmen, doch sein Inneres gab unter dem Druck knirschend nach. Wie ein Kissen, das zu spärlich mit einem knochigen Brei gestopft worden war. Also legte ich meine Hände ganz sanft auf ihn und ignorierte die Feuchtigkeit und die fauligen Ausdünstungen der Körpersäfte. Immer wieder brüllte ich mir meinen Schmerz aus dem Leib, der metallisch zwischen den dunklen Regalen und Wänden widerhallte.

     Es musste geraume Zeit verstrichen sein, ehe mein Zittern nachliess und mein Atem sich wieder beruhigte. Erst dann bemerkte ich den Rucksack, der neben meinem verstorbenen Ehemann auf dem Boden lag.







 

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