
Mit der kleinen Taschenlampe aus meiner Ausrüstung durchsuchte ich den Rucksack. Ich blickte auf allerlei Akten und zersplitterte Gläser. Sie mussten beim Aufprall zerbrochen sein, wobei sich ihr Inhalt über die Papiere ergossen hatte. Ein öliger Film zog sich über die Verwüstung und bildete unleserlichen Schlieren auf den Dokumenten. Nur ein Fläschchen aus dickem grünen Glas lag unversehrt zwischen der Zerstörung.
Es war leicht und fest verschraubt. Offensichtlich befand sich keine Flüssigkeit darin, doch hinter den Spiegelungen des Lichts liessen sich die Umrisse eines Zettels erahnen. Da sich der Deckel mit den Händen nicht drehen liess, schlug ich mit der Taschenlampe auf den Flaschenhals ein, bis er schliesslich mit einem lauten Knacken zersprang.
Zum Vorschein kam die schmale Papierrolle, die ich diesem Brief zusammen mit den anderen Beweisen beigelegt habe. Sie belegt die Abgründe dieses Ortes endgültig und lieferte mir den letzten Hinweis, um den Ursprung meines Elends auszumachen.
Notiz des Archivars
Wer auch immer dies findet, bitte helfen Sie mir! Ich heisse Otto Hermann. Man hält mich gefangen im Untergeschoss des Gebäudes für humane Physiologie und Biochemie auf dem Gelände des Semboz-Konzerns. Diese Nachricht spüle ich durch das Abwassersystem und bete zu allen gnädigen Mächten, dass sie ihren Weg durch die Kanäle des Areals findet und jemand entlang des Flusses sie rechtzeitig hinausfischen wird. Falls das Glück mir derart hold sein sollte: Bitte beeilen Sie sich! Die Polizei muss diesen Unmenschen Einhalt gebieten! Sie sperrten mich ein, weil ich ihren unaussprechlichen Machenschaften auf die Schliche gekommen bin. Ich wage es nicht, mir auszumalen, was diese Leute mit mir anstellen werden.
Ausserdem möchte ich ausdrücklich klarstellen, sei es für meine Retter oder die Nachwelt, dass ich mit der grässlichen Barbarei dieses Ortes nichts zu schaffen hatte!
Kaum zu fassen, dass ich so blind war. Obgleich: Blind war ich nicht, ich misstraute lediglich meinen Augen und Instinkten.
Schon bei der Einstellung schienen mir diese Leute nicht geheuer. Eine geheimnistuerische Unart begleitete jede ihrer Fragen, die mich bereits vor ihren üblen Vorhaben hätte warnen müssen. Unter normalen Umständen hätte ich auch für nichts in der Welt hier gearbeitet. Schliesslich bin ich gelernter Bibliothekar. Meine Welt ist die der Poeten und Philosophen, der bunten Wände unzähliger Buchrücken und des herrlichen Duftes pressfrischer Erkenntnis gegossen in die geschwungene Tinte der Buchstaben. Doch wer braucht schon Bibliothekare im Krieg? Und da ich weder an der Front zerfetzt noch auf den Strassen verhungern wollte, ergriff ich also die Chance, hier als Archivar meinen Unterhalt zu verdienen, trotz aller Bedenken.
Die vielen verbotenen Gänge, diese ekligen Fleischbrocken in den Flaschen, die auf Glasplatten aufgezogenen Gewebescheiben, all dies nährte mein Unbehagen mit jeder Stunde, die ich hier verbrachte. Jeden Tag fieberte ich dem erlösenden Abend entgegen und verliess das Gelände stets mit einer inneren Unruhe, die sich dann in nächtlichen Albträumen manifestierte. Ich dachte, es sei der Krieg, der uns allen solche seelischen Leiden beschert, aber heute, wie ich gefangen hier sitze, bin ich sicher, dass es dieser Ort war, der mich nervlich gefoltert hat, noch bevor ich verstand, was hier wirklich passierte.
Meine Aufgabe war es, die Flaschen und Glasplatten sinnvoll im Untergeschoss zu archivieren. Auf meine Nachfragen für mehr Informationen, die mir bei der Kategorisierung der Proben helfen könnten, antwortete man mir nicht. Ich sollte anhand ihrer Äusserlichkeiten ein System entwickeln. Man sieht: Obschon mir bewusst war, dass es sich um biologische Materialien handelte und obschon alle meine inneren Warnsirenen leuchteten und heulten, blieb ich vollkommen im Dunklen über die eigentlichen Mittel und Zwecke der hiesigen Forschung. Ob mich schliesslich mein Gewissen oder meine Neugier in diese Misere stürzten, vermag ich nicht zu beurteilen.
Das Archiv liegt im Untergeschoss. Der Zugang dazu befindet sich im Lagerraum. Wenn man ihn nicht sucht, ist er kaum zu entdecken, da eines der schweren Regale, die direkte Sicht darauf versperrt. Am Ende der steilen Treppe blockiert eine Sicherheitstür den Weg. Meine Tür, die massige grüne Holztür zum Archiv, befindet sich direkt zur Linken dahinter. Ansonsten erstreckt sich ein langer Korridor aus grauem Beton nach rechts. Das kalte, weisse Licht der Neonröhren flackerte bereits als ich die Stelle antrat und nichts ausser kargen Rohrleitungen säumt diesen Gang, der nach einigen Metern erneut rechts abzweigt, und somit seine dunklen Geheimnisse vor allen neugierigen Blicken verbirgt. All dies hätte dem einen oder anderen schon zu Genüge Unbehagen bereitet. Doch das Abscheulichste waren nicht die kühle Feuchtigkeit, die trostlosen Mauern, das künstliche Licht oder das drückende Gefühl der Beengung, sondern der infernalische Gestank, der irgendwo aus der entlegenen Tiefe des Korridors drang. Seine Quelle verbarg sich hinter der unheilvollen Biegung, die zu passieren, man mir strikt untersagt hatte. Und lange bewog mich absolut nichts dazu, dieses Verbot zu brechen. Im Gegenteil, ich war froh, nicht weiter in diesen gespenstischen Tunnel vordringen zu müssen und vermied unbeirrt jede unnötige Bewegung die tiefer in ihn hineinführte.
Bis gestern.
Eigentlich startete ich zuversichtlich in den Tag, trotz der schlagenden Alltäglichkeit. Die strahlende Sonne des jungen Morgens hatte mich bei der Anfahrt sogar für einige Momente die Tragödie unserer kriegsgeplagten Zeit vergessen lassen. Doch als ich gerade die grüne Tür aufschloss, mischte sich in den bestialischen Gestank des Ganges ein dumpfes, haarsträubendes Klopfen.
Zunächst wollte ich es ignorieren. Meine Tür stand offen. Ich hätte nichts weiter tun müssen, als sie hinter mir zu schliessen. Das Geräusch wäre aus meinen Sinnen verschwunden, die Gefahr gebannt gewesen. Doch irgendeine verfluchte Vernunftwidrigkeit rührte sich in mir.
Ehe ich mich versah, wanderte ich also geistesabwesend durch die stickige Luft des Ganges. Ich erinnere mich an das Surren des flackernden Lichts und wie mein Herz pochte, als ich zum ersten Mal um die geheimnisvolle Ecke trat, die für mich bis anhin tabu gewesen war.
Was sich mir dahinter eröffnete, kann eigentlich nur der Abstieg in die Unterwelt gewesen sein. Eine weitere Treppe grub sich tief in den Abyss. An ihrem Ende, bildete festgetrampelte lehmige Erde den Fussboden eines bizarren Kellergeschosses. Der Gestank war hier kaum auszuhalten. Die flirrende Deckenbeleuchtung warf fahles Licht auf mehrere Metalltüren, die sich in die Wände reihten. Einige der Türen standen offen, andere waren verschlossen und von einer der geschlossenen Türen im hinteren Bereich wummerte das Klopfen.
Was ich sah, als ich mich langsam auf das Geräusch zu bewegte, ist nur schwierig in Worte zu fassen. In den Kellerabteilen, die ich passierte, türmten sich leblose Körper. Zunächst wollten meine Augen mir weismachen, es handle ich um Tierkadaver, denn ich erkannte vereinzelt Felle, Flügel, monströse Klauen und Zähne, stachlige Gliedmassen, tierische Ohren und Schweife. Doch je länger ich meinen entsetzten Blick über dieses Armageddon streifen liess, erkannte ich, dass es Leichen von Lebewesen sein mussten, die einst Menschen gewesen waren.
An alles, was folgte, erinnere ich mich nur noch verschwommen. Wie ich, wie in Nebel gehüllt, den Arm ausstrecke, um die Tür zu öffnen, gegen die es beharrlich klopfte. An das humanoide Wesen, das vor mir zu Boden stolperte und verzweifelte Schreie von sich gab, wie es davonstürzte, als ich mich nicht regte, die Schüsse, die kräftigen Hände, die grüne Tür, die sich schloss.
Nun bin ich hier eingesperrt, gequält von diesen Bildern, die fortwährend vor mir aufflackern und mich jedes Mal aufs Neue erschrecken. Ich habe alles versucht, um zu entkommen, doch kein Weg führt hier hinaus. Bitte, helfen Sie mir! Falls Sie noch rechtzeitig kommen, erkennen Sie mich, an meiner Lippenspalte und den roten Haaren. Lassen Sie sich nicht abwimmeln! Ich will nicht, wie diese kläglichen Geschöpfe im Keller enden! Bitte! Jemand muss diesen Wahnsinn stoppen, denn egal, was hier vor sich geht, diese Experimente haben mit Bestimmtheit jeden vorstellbaren Zenit der Unmenschlichkeit überschritten. Ich verlasse mich auf Sie, wer auch immer Sie sind!
Mit schweissnassen Händen und einem Dröhnen in den Ohren packte ich den schriftlichen Hilferuf in meine Tasche. Wahrscheinlich hatte die Nachricht es niemals aus dem Fabrikgelände geschafft und Karl hatte sie irgendwo hier gefunden. Mit aller Kraft, die ich aufbringen konnte, wuchtete ich mich gegen Jammer und Schuld, die meinen Blick an Karls sterbliche Überreste fesselten. Ich verabschiedete mich und schwor ihm, mit Hilfe wiederzukommen, damit er nicht an diesem schrecklichen Ort bleiben müsse.
Ich flehe dich an Thies: Bitte versprich mir, dass du dafür sorgst, dass man Karl da rausholt! Auch wenn du mir nun vielleicht nicht glauben wirst, woher das Gift stammt, das unser Wasser verpestet.
Nachdem ich mich also losgerissen hatte, suchte ich bewaffnet mit der Taschenlampe die Treppe, die zum Archiv führen sollte. Zweifelsfrei kam ich zu spät, um den Archivaren zu retten, doch womöglich würde ich seine Überreste und weitere Beweise für seine Ausführungen finden.
Ich kam allerdings nicht weit. Die Treppe zu finden gelang mir schnell, doch der Weg führte ins Wasser. Das gesamte Kellergeschoss war überflutet und nur wenige Stufen ragten noch aus dem künstlichen Wasserloch, das sich dort gebildet hatte. Im ersten Moment wirkte das Wasser erstaunlich klar, doch auf der Oberfläche schwammen vereinzelte Fetzen gallertigen Schleims und als ich mich näher darüber beugte, stieg mir ein modriger Geruch in die Nase. Ich leuchtete in die Brühe und erkannte, dass mehrere unkenntliche Gegenstände darin schwebten. Was ich mir davon versprach, weiss ich nicht. Schock, Frust, Trauer, ein wildes Gewühl aus Empfindungen sass mir in den Knochen und in einer Art Dämmerzustand starrte ich verbissen in die finstere Tiefe.
In dieser grausigen Dunkelheit, die sich mittlerweile nicht nur um mich herum, sondern auch in mir auszubreiten schien, sah ich plötzlich etwas, das ich bis zur jetzigen Stunde noch nicht zu glauben wage.
Ich kreischte. In einem Ruck sprang ich auf und rannte panisch aus dem Gebäude, wo das Wasser im Abwasserkanal noch immer gluckste und Blasen warf. Und erst zu diesem Zeitpunkt begriff ich die schreckliche Wahrheit: Die Risse in der Betoneinfassung des Kanals mussten über den Leichenhallen liegen, die der Archivar beschrieben hatte! Spalten mussten sich über die Jahre gebildet haben und das Erdbeben hatte die Erde geöffnet, sodass das Wasser den Untergrund flutete und all die unvorstellbaren Gifte hinaufspülte, die man diesen Menschen verabreichte hatte. Gifte, die im Fluss landeten und zu unserem Hof strömten.
Mich überkam ein unaussprechlicher Ekel. Ich rannte, würgte und weinte, doch gestattete mir nicht stehenzubleiben, bis ich den vorderen Rand des Areals erreicht hatte. Denn es war nicht der Ekel, nicht diese scheussliche Erkenntnis, die mich antrieb, sondern blanke Angst.
Ich vermag nicht mehr zu sagen, ob mir meine Fantasie inmitten all dieser grausamen Eindrücke ein Streich spielte. Ich weiss nur, was ich zu sehen glaubte, als ich so verkrampft in dieses tödliche Wasser starrte.
Etwas bewegte sich darin. Es ging unglaublich schnell. Einige der schwebenden Gegenstände schossen zur Seite. Und dann plötzlich blitzten Augen in der Finsternis auf. Zwei runde, gelbe Glubschaugen glotzen mir aus der Tiefe entgegen und eine Kreatur, wie sie nur alte Sagen und die Hölle kennen, schob sich mächtig aufwärts, direkt auf mich zu. Die Kreatur zu beschreiben übersteigt meine Fähigkeiten. Alles in mir sträubt sich, mir dieses Ding vor Augen zu rufen.
Doch es sind vor allem zwei Merkmale, die unaufhörlich in meinem Gedächtnis auflodern und mich dazu zwingen mich mit furchtbaren Mutmassungen und Ungewissheiten zu martern: Es sind die roten Fäden aus Fell, die überall aus der schuppigen Haut drangen und die Lippenspalte, die unverkennbar über den gewaltigen Reisszähnen in der scheusslichen Fratze des Wesens klaffte.
Ich flehe dich an, Thies! Jemand muss Karl aus diesem vermaledeiten Ort bergen. Man muss die Wasserkanäle blockieren! Und wenn es bedeutet, dieses Areal mit allen Albträumen, die es birgt, dem Erdboden gleich zu machen!
Deine Schwester,
Lia
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