top of page

Der Streit um neutrale Wissenschaft


Symbolbild Wissenschaftsstreit


Letztes Jahr hat der Gazakonflikt an Universitäten rund um die Welt zu politischen Aktivitäten geführt[1]. Zuerst sprachen sich einige Akademikerinnen und Akademiker oder ganze Institute kritisch gegen die Kriegshandlungen Israels aus und letztlich wurden Universitäten zu Schauplätzen öffentlicher Proteste und zivilen Ungehorsams, bei dem Universitätsgelände und -gebäude besetzt wurden. Die Protestierenden forderten die Zusammenarbeit mit israelischen Universitäten einzustellen.


Diese Ereignisse, ebenso wie zuvor die Coronapandemie, haben die Frage nach der Neutralität und Objektivität der Wissenschaft in den öffentlichen Diskurs getragen.[2]

Dieser Essay beleuchtet zuerst die Kritik an der Wissenschaft; Was für eine Vorstellung von Wissenschaft steckt dahinter und wie lassen sich die Vorwürfe ausdifferenzieren? In zweiten Schritt bietet der Essay einen kurzen Überblick über den Streit um Werte in den Wissenschaften, wie er sich schon seit Jahrhunderten zuträgt. Dabei werden einerseits die Hürden in der Wissenschaft dargestellt und wie daraus ein Bezug auf epistemische Werte notwendig wird. Andererseits werden die «Konfliktparteien» des Wissenschaftsstreits karikiert und die Irrungen herausgestellt, die ihrer Position zugrunde liegen. Schliesslich werden die Erkenntnisse aus diesem Ausflug in die Wissenschaftstheorie auf die Gazaproteste an den Universitäten angewendet. Es zeigt sich, dass die zunächst einleuchtende Forderung nach neutraler Wissenschaft, im Grunde der Komplexität von Wissenschaft in modernen Gesellschaften nicht gerecht wird.

 

Vorwürfe und Differenzierungen

Die Forderung stösst auf Argwohn, unter anderem, weil sie der Vorstellung von einer neutralen, politisch unbefangenen Wissenschaft zu widersprechen scheint. Den studentischen Protestierenden fehle das Verständnis für einen wesentlichen Aspekt moderner Wissenschaft. Zudem kamen im Zusammenhang mit Stellungnahmen der Institute Verdachtsäusserungen auf, ganze Disziplinen aus den Geistes- und Sozialwissenschaften seien in politischen Ideologien befangen.[3]


Was diesen Anschuldigungen zugrunde liegt, ist ein vages Alltagsverständnis einer neutralen Wissenschaft. Demnach heisst Wissenschaft neutral zu betreiben, dass die Forschenden dabei nicht ihre persönlichen Interessen oder die Interessen einer partikularen Gruppe verfolgen, sondern sich in ihrer Forschungstätigkeit dem universellen Gut des Erkenntnisgewinns verschreiben. Neutrale Wissenschaft muss dabei insbesondere auf Werturteile verzichten – Neutrale Wissenschaft bedeutet wertneutrale Wissenschaft und beschränkt sich auf Beobachten, Messen, Beschreiben, Erklären, Rechnen, logisches Schlussfolgern und ähnliche vermeintlich wertneutrale Mittel. Nur auf diese Weise kann die aus ihr gewonnene Erkenntnis so geartet sein, dass sie zumindest theoretisch für alle Menschen einsehbar ist, wenn sie nur über dieselben Voraussetzungen verfügten, wie Informationen, Fähigkeiten, technisches Equipment etc. Manche sprechen in diesem Fall davon, dass Wissenschaft objektive Erkenntnisse gewinnt, objektives Wissen schafft.


Diese Vorstellung einer neutralen und objektiven Wissenschaft kann im Rahmen einer kritischen Haltung gegenüber der Wissenschaft zweierlei Funktionen erfüllen: Auf der einen Seite dient sie kritischen Stimmen als Standard, an dem die Wissenschaft gemessen wird. Es wird angenommen, dass Wissenschaft notwendigerweise neutral und objektiv sein muss. Ansonsten ist es keine Wissenschaft.


Auf der anderen Seite basieren die Vorwürfe auf der Annahme, dass die Vorstellung einer neutralen und objektiven Wissenschaft ein reines Hirngespinst darstellt. In Wirklichkeit gebe es keine objektiven Erkenntnisse und Wissenschaft sei immer gesteuert durch Interessen. Forschende würden mit Berufung auf die Neutralität und Objektivität der Wissenschaft bloss versuchen, ungerechtfertigt Autorität für sich in Anspruch zu nehmen.


Der allgemeine Vorwurf rund um die Gazaproteste, ob ausgesprochen oder angedeutet, ist klar: Wenn die Wissenschaft oder die betroffenen akademischen Disziplinen nicht politisch neutral sind, beziehungsweise überhaupt nicht politisch neutral sein können, dann gilt ihr Streben nicht in erster Linie einer wertfreien Suche nach universellem Wissen, Verständnis oder Wahrheit, sondern der Beförderung politischer Interessen. Damit entpuppt sie sich als politischer Aktivismus. Als Wissenschaft muss sie nicht ernstgenommen werden.


Dass Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern einer systematischen Befangenheit durch politische oder persönliche Interessen verdächtigt werden, ist dabei kein neues Phänomen. Die Genderforschung sieht sich seit jeher mit solchen Vorwürfen konfrontiert.  Soziologie haftet das Vorurteil an, tendenziell politisch links orientiert zu sein. Den Wirtschaftswissenschaften wird vorgeworfen, sie würden den theoretischen Unterbau liefern, um die Interessen der Wohlhabenden zu rechtfertigen, zu denen sie selbst gezählt werden müssen. Doch auch die Naturwissenschaften sind nicht mehr vor Misstrauen gefeit; man denke bloss an Diskussionen rund um den Klimawandel oder zuletzt in der Coronapandemie.


Bei solchen Verdächtigungen, wie sie auch im Zusammenhang mit den Gazaprotesten geäussert wurden, muss man zwischen zwei allgemein möglichen Vorwürfen an die Wissenschaft unterscheiden:


Der erste Vorwurf betrifft die Wissenschaft als Tätigkeit. Der Vorwurf lautet, die Forschung einzelner Wissenschaftlerinnen und Wissenschaften oder einer gesamten akademischen Disziplin beruhten auf streitbaren, wertebasierten Annahmen, welche die Forschenden nur akzeptierten, weil sie ihren persönlichen Interessen, politischen Ansichten oder Wertvorstellungen entsprächen. Würde man allerdings die Grundannahmen aufgeben, würde ihre Forschung zusammenbrechen, die Disziplin, wie sie heute besteht, aufhören zu existieren.


Der zweite Vorwurf betrifft Wissenschaft als Institution. Die Forschung der Disziplin oder der einzelnen Forschenden selbst sei im Grunde zwar wissenschaftlich, aber die Forschungspraxis wird korrumpiert durch institutionelle Strukturen, sowie politische und wirtschaftliche Interessen, die auf diese einwirkten. Man zweifelt nicht daran, dass die Forschenden unbefangen der wissenschaftlichen Tätigkeit nachgehen oder dass Volkswirtschaftslehre und Pharmazeutik wissenschaftliche Disziplinen sind. Vielmehr lautet der Verdacht, dass die institutionellen Strukturen die Forschungsergebnisse in eine bestimmte Richtung verzerren oder allzu schnell in den Umlauf bringen.


Der erste Vorwurf betrifft tendenziell stärker, aber nicht ausschliesslich, die Sozial- und Geisteswissenschaften. Der zweite Vorwurf richtet sich oft, aber nicht ausschliesslich, gegen naturwissenschaftliche Forschung. Allerdings ist kaum eine trennscharfe Linie zu eruieren, wo Wissenschaft als Tätigkeit aufhört und wo Wissenschaft als Institution anfängt und damit können auch die Vorwürfe fliessend ineinander übergehen.


So unbefriedigend und widersprüchlich es erscheinen mag, aber an all diesen Annahmen und Vorwürfen ist etwas dran. Sie verweisen auf wesentliche Herausforderung und Chancen im Betrieb der Wissenschaft. Nichtsdestotrotz ziehen ihre Verfechter sowohl theoretisch als auch praktisch die falschen Schlüsse daraus, wenn sie sich deutlich auf die eine oder andere Seite in der Streitfrage um neutrale Wissenschaft stellen.

 

Ein Streit im Kurzabriss 1: Hürden und Werte der Wissenschaft

Es ist durchaus wahr, dass der Wissenschaft als in modernen Gesellschaften stark institutionalisierter Tätigkeit, die auf die Erweiterung menschlicher Erkenntnis gerichtet ist, gewisse unumgängliche Hürden innewohnen. Diese sind den Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern keineswegs verborgen geblieben. Vielmehr gehen die Auseinandersetzungen zu einigen dieser Hürden zurück bis zur Schule der Skeptiker im antiken Griechenland. Alleine im letzten Jahrhundert spricht man von mehreren Werturteilsstreits, weil sich Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler nicht einig sind, inwiefern Wissenschaft neben der Hypothesenbildung und Beschreibung von Tatsachen auf Werturteile angewiesen ist.[4] Manche sprechen im Zuge einer solchen Auseinandersetzung in den 80er-Jahren von einem regelrechten Wissenschaftskrieg.[5] Diese Debatten halten bis heute an und arten hin und wieder in Skandale aus, die ausserhalb der akademischen Gemeinschaft allerdings kaum wahrgenommen werden.[6]


Angesichts der langen Historie und der Komplexität dieser Auseinandersetzungen ist hier nicht der Platz, um einen vollständigen Überblick über diese Diskussionen zu bieten. Dennoch möchte ich versuchen einen Eindruck zu vermitteln, wie mannigfaltig die Debatten innerhalb der wissenschaftlichen Gemeinschaft sind, die sich mit den Hürden der Wissenschaft auseinandersetzten.


Die Hürden lassen sich grob in zwei Kategorien einteilen, nämlich epistemologischen Hürden und psychosozialen Hürden. Dabei lässt sich keine eindeutige Linie zwischen den beiden ziehen. Stattdessen werden manche Hürden besser sichtbar, wenn man sich von der Seite der Epistemologie oder von der Seite der Psychologie und Soziologie annähert.

 

Epistemologische Hürden

Die epistemologischen Hürden betreffen im Grunde das Problem, inwiefern die Suche nach Erkenntnis überhaupt ohne Rückgriff auf Werturteile auskommen kann. Dabei stellen epistemische Werte wie Wissen, Verständnis und Wahrheit keine Schwierigkeiten dar. Dass diese Werte zu jedem aufrichtigen wissenschaftlichen Unterfangen dazugehören, darüber ist man sich weitgehend einig. Doch jede wissenschaftliche Arbeit scheint irgendwann an einen Punkt zu stossen, an dem Entscheidungen getroffen werden müssen, die sich nicht ohne Bezug auf Werte rechtfertigen lassen. Diese Werteurteile stehen dann unter Verdacht, nicht-epistemischer Natur zu sein und sich vielmehr aus unseren persönlichen, kulturellen, religiös oder politisch motivierten Interessen zu speisen. Wo im Forschungsprozess diese Punkte sind, an denen nicht-epistemische Werte einfliessen können und wie damit umzugehen ist, ist Bestand unzähliger Debatten. Ein paar Beispiele:

 

a. Münchhausen-Trilemma:Alle wissenschaftlichen Untersuchungen und Argumentationen benötigen einen Ausgangspunkt; Tatsachenbeschreibungen und methodische Annahmen, die als gegeben betrachtet und als Prämissen vorausgesetzt werden. Doch wie entscheidet man, welche Prämissen als Ausgangspunkt der Untersuchung zu akzeptieren sind?  Die Begründung jeder Prämisse setzt wiederum neue Prämissen voraus, sodass wir die Begründung ins Unendliche ziehen (infiniter Regress) oder im Kreis herumtreiben (Zirkelschluss). Der einzige, ebenso unelegante Ausweg scheint eine dogmatische Setzung der Prämisse, die auf die eigenen Werte verweist. Die Verhandlung des Umgangs mit diesem sogenannten Münchhausen-Trilemma oder den Tropen des Agrippa reicht zurück in die Ursprünge der westlichen Philosophie.

 

b. Induktion:

Ein weiterer Punkt, an dem sich nicht-empirische Werte in die Wissenschaften einschleichen können, ergibt sich aus dem Induktionsproblem. Das Induktionsproblem hält fest, dass selbst bei der hunderttausendsten Beobachtung eines Phänomens, die unsere allgemein formulierte Hypothese bestätigt, nicht auf die Allgemeingültigkeit der Hypothese geschlossen werden kann. Selbst wenn das neuste durch Forschende entdeckte Lebewesen auf Kohlenstoff basiert, lassen es die Regeln der Logik nicht zu, daraus auf die Allgemeingültigkeit der Hypothese zu schliessen, dass alles Leben auf Kohlenstoff basiert. Eine einzige Beobachtung eines auf Silizium basierenden Lebewesens reicht, um die Gültigkeit der bis heute weitgehend unbestrittenen Hypothese infrage zu stellen.


Dennoch werden unzählige solche verallgemeinerten Sätze in den Wissenschaften als Erkenntnisse akzeptiert und das sogenannte induktive Risiko in Kauf genommen. So geht man heute weitgehend davon aus, dass jedes Leben auf Kohlestoff basiert. Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler haben einen Umgang mit diesem Risiko gefunden und orientieren sich an gewissen Regeln der Akzeptanz. Diese fussen jedoch wiederum auf gewissen Werturteilen und nicht alleine in Tatsachenbehauptungen.[7]

 

c. wertegeladene Beobachtungen oder Beschreibungen:

Als letztes Beispiel für epistemologische Hürden sei hier noch die Debatte erwähnt, ob und wie Beobachtungen und Messungen die wertfreie Grundlage wissenschaftlicher Untersuchungen bilden können. Wie wir Beobachtungen in Tatsachenbeschreibungen übersetzen und wie wir unsere Überzeugungen aufgrund von Beobachtungen anpassen, scheint komplett ohne Referenzen auf Werte nicht bestimmbar zu sein. Auch diese Diskussion geht im Grunde bereits bis in die Zeit Platons zurück. Im 20. Jahrhundert fand das Problem seine Behandlungen beispielsweise in der Protokollsatzdebatte des Wiener Kreises oder in der Auseinandersetzung mit der Duhem-Quine-These.

 

Tatsächlich scheint es ein ganzes Bouquet an «wissenschaftlichen Werten» zu geben, die sich im Laufe der Wissenschaftsgeschichte als «best practices» und wichtige Leitplanken der Suche nach Erkenntnis etabliert haben.[8] Diese werden teilweise als «superempirische Werte» [9] bezeichnet und beinhalten Werte wie:


  • Klarheit und Genauigkeit: Erkenntnisse, Hypothesen, Beschreibungen, Vorgehensweisen usw. sollten möglichst klar und genau, ohne Hang zur sprachlichen Obskurität, dargelegt werden.

  • Transparenz: Es sollte ersichtlich sein, wie die eigenen Ergebnisse zustande gekommen sind und auf welchen Annahmen sie beruhen.

  • Innere Konsistenz: Aufgestellte Theorien, Behauptungen, Annahmen, Schlüsse etc. sollten untereinander konsistent sein.

  • Überprüfbarkeit, Reproduzierbarkeit, Falsifizierbarkeit und Kooperation: Wissenschaft ist ein kooperatives Unterfangen, das nur funktionieren kann, wenn jede wissenschaftliche Arbeit von anderen qualifizierten Kolleginnen und Kollegen überprüft und gegebenenfalls reproduziert oder falsifiziert werden kann.

  • Einfachheit und explanatorische Kraft: Prinzipien, die zur Erklärung gewisser Phänomene dienen, sollten mit so wenig Zusatzannahmen wie möglich auskommen und sind besser, je mehr Phänomene sie zu erklären vermögen.

  • Unparteilichkeit, Allgemeinheit und Objektivität: Hypothesen, Erklärungen, Vorgehensweisen sollten nicht durch persönliche Interessen motiviert sein (Unparteilichkeit). Es ist davon auszugehen, dass sie für alle Phänomene der gleichen Art ihre Gültigkeit besitzen (Allgemeinheit) und theoretisch für alle Menschen und vernünftigen Wesen nachvollziehbar und einsehbar sind (Objektivität).


Diese oder ähnlich verfasste wissenschaftliche Werte gelten nicht unumstritten als epistemische Werte; Sie ergeben sich nicht notwendigerweise aus dem Streben nach Erkenntnis, sondern haben sich kontingenterweise als Werte einer gesellschaftlichen Praxis etabliert. Dass die Werte kontingent sind, lässt zu, dass sie möglicherweise durch alternative – eventuell auch offen politische – Werte ersetzt oder ergänzt werden könnten.[10]

 

Psychosoziale Hürden

An dieser Stelle tut sich denn auch ein Übergang zu den psychosozialen Hürden der Wissenschaft auf. Diese entstehen aus der Tatsache, dass Wissenschaft eine gemeinschaftliche Tätigkeit unter Menschen darstellt. Zum einen sind Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler als Menschen stets von ihren persönlichen Interessen und Überzeugungen beeinflusst. Das kann ihre wissenschaftliche Arbeit auf verschiedene Art und Weisen korrumpieren. Im schlimmsten Fall lassen sie sich bewusst bestechen. Doch ihre Interessen und Überzeugungen können auch zu unbewussten Verzerrungen in ihrer Wahrnehmung und ihrem Denken führen. Und selbst, wenn sie innerhalb der Forschung alles richtig machen, bestimmen doch ihre Interessen, welche Themen sie sich für ihre Forschung an Land ziehen und welche im gewaltigen Ozean der Ignoranz zurückbleiben.


Hinzu kommt, dass sich in gemeinschaftlichen Tätigkeiten kontingente Normen, Hierarchien, Verhaltenstendenzen und Vorgehensstandards entwickeln, manche explizit, manche implizit, manche anhaltend, manche sich kontinuierlich verändernd. Dass dies auch für die moderne Wissenschaft gilt, wurde vielfach beschrieben und hat zu ausführlichen Kontroversen geführt.[11] Nicht zuletzt, weil teilweise sehr weitreichende und hoch umstrittene Schlüsse aus den grundsätzlich zutreffenden Beobachtungen gezogen wurden. Zu diesen umstrittenen Schlüssen gehört unter anderem die These, superempirische Werte seien ebenfalls Teil dieser rein kontingenten Strukturen und könnten dementsprechend auch politisch motiviert verändert werden.[12] Bei Bloor und Barnes, den Vertretern des sogenannten «starken Programms», mündeten die soziologischen Feststellungen in einen ausgewachsenen Relativismus[13] und Latour schloss aus seinen Beobachtungen in einem Labor der Molekularbiologie kokett, dass Forschende Fakten in erster Linie fabrizieren und nicht entdecken würden.[14]


Wie angemerkt, sind diese Schlüsse äusserst umstritten.[15] Zudem darf behauptet werden, dass sie nur wenig Einfluss auf die tatsächlichen Arbeitsweisen und das Selbstverständnis von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern ausübten. Letztlich bedarf es solcher starken Thesen nicht, um einzusehen, dass im Ökosystem moderner Wissenschaft soziale Strukturen eine mächtige Rolle spielen. Das dürfte jeder Person gewahr sein, die sich selbst länger im akademischen Ökosystem aufgehalten hat.


Eine Tendenz, die sich in den letzten Jahrzehnten innerhalb der institutionalisierten Wissenschaft entwickelt hat und vermehrt kritisch betrachtet wird, ist das sogenannte «publish or perish» [publiziere oder verschwinde].[16]  Es besteht darin, dass Erfolg und Prestige im akademischen Kontext mittlerweile überproportional an der Anzahl der Publikationen in anerkannten Fachzeitschriften festgemacht werden. Dabei spielen die Qualität und der Inhalt der Forschung für das Ansehen und die Bewertung des Erfolgs kaum noch eine Rolle. Dieser Druck, auf eine hoch standardisierte Weise zu publizieren, führt zu zahlreichen Verhaltenstendenzen bei den Forschenden, die sich negativ auf die Suche nach neuen Erkenntnissen auswirken. Beispielsweise kann es für Forschende sicherer sein, bereits zigfach durchgeführte Experimente zu replizieren, nur leicht zu modifizieren oder neu zu interpretieren, anstatt den Versuch zu wagen, neue innovative Wege in der Forschung zu beschreiten. Neue Forschung zu betreiben, aus der «Normalwissenschaft» auszubrechen und eine wissenschaftliche Revolution im Sinne Kuhns[17] anzustreben, bedeutet deutlich mehr Aufwand und stösst aufgrund etablierter Überzeugungen auf grösseren Widerstand für die Publikation. Das ist ein Nachteil, den viele Forschende für ihre Karriere nicht in Kauf nehmen wollen, selbst wenn die Arbeit von grösserem wissenschaftlichem Wert wäre.

 

Epistemische Werte

Es ist unbestreitbar: Die wissenschaftliche Tätigkeit ist mit zahlreichen Hürden verbunden. Eine komplett wertfreie Wissenschaft kann es allein deshalb nicht geben, weil es sich um eine zielgerichtete Tätigkeit handelt; Man möchte neue Erkenntnisse gewinnen, die Welt besser verstehen, einen flüchtigen Blick auf die traumhafte Gestalt der Aletheia erhaschen. Neben diesen epistemischen Zielwerten – Wahrheit, Wissen, Erkenntnis, Verständnis – geben uns instrumentelle Werte Auskunft darüber, wie man diese Ziele am besten erreichen kann. Dabei sollten sich diese instrumentellen Werte so ausschliesslich wie möglich aus den epistemischen Zielwerten ergeben[18]; in diesem Fall kann man von instrumentellen epistemischen Werten sprechen. Wo instrumentelle Werte ins Spiel kommen, besteht allerdings auch die Gefahr der Infiltration durch anderweitige Interessen, nicht-epistemische Werte, die in die Forschung einfliessen können.


Dort beginnen auch die menschlichen Hürden: Streben nach Anerkennung, ideologische Motivationen, Vorurteile, eingespielte oder institutionell verstärkte Verhaltensmuster, Hierarchien, Gatekeeping, ungeeignete Mittel der Erfolgsbewertung und was man sich sonst noch vorstellen kann.


Die Involvierung von Werten und der Einfluss der menschlichen Komponente auf die Wissenschaften ins Bewusstsein zu rufen, ist für sich betrachtet ein wissenschaftlicher Fortschritt. Um gute, also auf epistemische Werte ausgerichtete, Wissenschaft zu betreiben, ist es unumgänglich auf diese Hürden aufmerksam zu machen und die eigene Arbeit kritisch zu prüfen, um unredliche Einflüsse zu minimieren. Die intellektuelle Redlichkeit wird somit ebenfalls zu einem unverzichtbaren instrumentell-epistemischen Wert innerhalb der wissenschaftlichen Tätigkeit.

 

Ein Streit im Kurzabriss 2: Umgang mit Hürden und Werten

Das Wissen um all diese Hürden hat auf äusserst ambivalente Weise auf die wissenschaftliche Praxis zurückgewirkt. Grob dargestellt, schafft es drei prototypische Lager, die sich mittlerweile immer deutlicher im breiteren öffentlichen Diskurs abzeichnen.

Bei einem bedeutenden Teil der Forschenden, dürfte es zu einer Qualitätssteigerung ihrer wissenschaftlichen Fähigkeiten und Arbeit geführt haben. Sie sind sich den Hürden ihrer Forschung bewusst, entscheiden über ihre Mittel und Methoden mit Blick auf epistemische Werte, die sie zu rechtfertigen wissen und hinterfragen sich proaktiv und selbstkritisch bezüglich ihrer intellektuellen Redlichkeit. Das sind überaus schwierige Entscheidungsprozesse, mit denen manche Forschende zuweilen ringen, wenn sie sich ihrer Verantwortung bewusst sind. Im Disput um neutrale, objektive, richtige Wissenschaft darf man davon ausgehen, dass dieser Teil der Forschenden eher schweigsam und wenig sichtbar ist. Das moderate Lager versandet zwischen den Polen.


Der zweite Teil fühlt sich von diesen Problemen nicht angesprochen und verhält sich ihnen gegenüber ignorant. Dies betrifft vornehmlich Leute in den Naturwissenschaften und in anderen stark mathematisierten Disziplinen. Zwar kommt auch dieser Teil zwangsweise mit den Schwierigkeiten in Berührung, indem sie in ihrer Ausbildung Standards für empirische Forschung sowie für statistische und mathematische Methoden vermittelt bekommen. Doch das Kochrezept verrät nicht die kulinarischen Erwägungen des Kochs und die Befolgung des Rezepts befähigt nicht dazu, eigenen Rezepte zu kreieren. Genauso verdeckt die Komplexität mathematischer Methoden oft die dahinterstehenden Werturteile und die reine Anwendung von Standards garantiert nicht, dass diese bei Bedarf an den vorliegenden Fall angepasst werden. Die Ignoranz bezüglich des Einflusses von Werten auf die Wissenschaft führt dazu, dass sich dieser Teil der Forschenden im Disput um richtige Wissenschaft tendenziell abwertend gegenüber denen äussern, die auf die Hürden der Wissenschaft aufmerksam machen. Etwas überspritzt ausgedrückt, hat die Wissenschaft von ihrer Warte aus überhaupt keine Probleme. Ein Hang zum Wissenschaftsabsolutismus ist zu beobachten: Das Gerede von Werten in den Wissenschaften sei unwissenschaftlicher Humbug, geäussert von ideologisch verblendeten Geisteswissenschaftlerinnen und -wissenschaftlern, welche drauf und dran seien, die unzweifelhafte zivilisatorische Errungenschaft der wissenschaftlichen Praxis zu zerstören.


So wie man in den Wald ruft, so schallt es hinaus; Das dritte Lager verkörpert das Feindbild der Wissenschaftsabsolutisten. Dabei ist freilich unklar, wer der Wald ist ­– rufen tun beide.  Wie bereits erwähnt, gibt es durchaus Forschende, welche weitreichende Schlussfolgerungen aus der Auseinandersetzung um die wissenschaftlichen Hürden ziehen. Die althergebrachten epistemischen Werte der Wissenschaft gelten ihnen als willkürlich. Sie seien abhängig von der Kultur, aus welcher die Forschenden stammen und die Kultur sei wiederum bestimmt durch die Interessen und Machtansprüche privilegierter Gruppen. In der Konsequenz verschwimmen im Verständnis dieses Lagers jegliche Grenzen zwischen Wissenschaft und Politik. Jeder wissenschaftliche Beitrag wird zum Instrument in einem gesellschaftlichen Ringen um Macht und um aus ihrer aufständischen Position heraus die Macht über den Diskurs zu erlangen, ist letztlich jedes Mittel erlaubt. – Die frei zugänglichen Gärten des wissenschaftlichen Diskurses werden zu Schlachtfeldern der Dispute mit abgegrenzten Territorien, um die in sinnlosen Grabenkämpfen gerungen wird.


Sich seines Standpunktes bewusst zu werden, bedeutet plötzlich, durch die eigene Forschung für den eigenen Standpunkt und die eigene Gruppe einzutreten. In manchen radikalen Versionen wird die Möglichkeit eines Standpunkte übergreifenden Dialoges mit Verweis auf starke Relativismen geleugnet und Wortmeldungen aus gewissen gesellschaftlichen Gruppen zu gewissen Themen werden von Vornherein disqualifiziert.


Wie weit die zugrundeliegenden historisch-soziologischen Analysen des aufständischen Lagers korrekt sind, wo sie in destruktive praktische Schlüsse umschlagen und was das für die epistemischen Werte der Wissenschaft bedeutet, kann in diesem Essay nicht hinreichend aufgeschlüsselt werden. Dennoch kann festgehalten werden, dass die Positionen der Aufständischen und der Absolutisten sowohl theoretisch falsch als auch praktisch kontraproduktiv sind.

 

Kurzsichtigkeit der Polparteien

Es ist kein Widerspruch eine neutrale und objektive Wissenschaft zu fordern und gleichzeitig zu postulieren, dass im Zentrum wissenschaftlicher Tätigkeit epistemische Werte stehen. Damit ist auch die Einsicht vereinbar, dass es vielzählige ernstzunehmende Hürden gibt, die wissenschaftliche Arbeit von anderweitigen politisch oder persönlich motivierten Werturteilen freizuhalten.


Sowohl das Lager der Absolutisten als auch das Lager der Aufständischen scheinen diese Möglichkeit zu übersehen. Wenn man sie allerdings akzeptiert, wird ersichtlich, dass beide Lager mit ihrem Vorgehen über die wissenschaftlichen Hürden stolpern und sich im Lichte epistemischer Werte Verfehlungen schuldig machen.


Die Absolutisten laufen durch ihre Verleugnung der wissenschaftlichen Hürden Gefahr, genau diesen zum Opfer zu fallen. Werteurteile in ihrer Arbeit bleiben unerkannt und intransparent. Zudem tendieren einige dazu, aus Trotz genau jene Methoden weiterhin anzuwenden, die von ihren Kritikerinnen der Wertebeladenheit (value-ladenness) angeklagt sind. Dabei wird an Entscheidungen, die anfänglich durch epistemische Werte motiviert waren, zunehmend aus politischen oder persönlichen Gründen festgehalten. Ein Beispiel dafür sind gewisse Annahmen aus den Wirtschaftswissenschaften,[19] wie diejenige der Gleichheit aller Marktteilnehmenden. Diese Annahme mag mit Blick auf die instrumentellen epistemischen Werte der Einfachheit, der Klarheit oder der explanatorischen Kraft durchaus gerechtfertigt erscheinen. Die hervorgebrachten Ergebnisse im Zusammenhang mit diesen Annahmen scheinen jedoch zu praktischen Interpretationen einzuladen, die gewisse Gesellschaftsschichten systematisch begünstigen oder benachteiligen. Wenn dem so ist, nutzt es nichts, sich der Debatte über die Rechtfertigung dieser oder ähnlicher Annahmen zu verweigern. Im Gegenteil, sie aus blossem Trotz beizubehalten, korrumpiert die intellektuelle Redlichkeit der Forschenden, weil der Grund für ihre Anwendung nun nicht mehr allein auf die instrumentellen epistemischen Werten zurückzuführen ist.


Dagegen unterliegen die Aufständischen dem Trugschluss, dass Werte völlig nach Belieben in die wissenschaftliche Arbeit eingestreut werden können. Zugegeben, Wissenschaft kommt nicht ohne Werte aus, institutionalisierte Wissenschaft kennt ungerechte Strukturen und Menschen orientieren ihre Wertvorstellung nur allzu oft an ihren persönlichen Interessen. Doch daraus zu schliessen, dass Menschen unfähig sind, sich aus uneigennützigen Motiven an epistemischen Werten auszurichten, ist überaus voreilig und zeugt von Zynismus. Es mag sein, dass manche Forschungsannahmen, -methoden oder -ergebnisse durch die partikularen Interessen der Forschenden beeinflusst sind, doch es kann nicht die Lösung sein, dies allen Mitgliedern gewisser gesellschaftlicher Gruppen pauschal zu unterstellen. Vielmehr sollten solche Vermutungen im Einzelfall mit gleicher Rigorosität wie andere Hypothesen überprüft werden. Werden darüber hinaus innerhalb der wissenschaftlichen Praxis Fronten aufgebaut und die Orientierung an epistemischen Werten zugunsten politischer und anderer Werte als zweitrangig erklärt, zeugt dies von einer Kurzsichtigkeit, die von Blindheit nicht mehr weit entfernt ist.


Der Grund dafür ist einfach: Gesetzt wir akzeptieren, dass das ideelle Zentrum der wissenschaftlichen Tätigkeit die systematische Ausrichtung an epistemischen Werten darstellt, dann hört Wissenschaft in dem Moment auf zu existieren, in dem diese systematische Ausrichtung aufgegeben wird. Wissenschaftliche Tätigkeit wird dadurch von jeglichen Standards befreit, die sie von oberflächlich ähnlich anmutenden Tätigkeiten abhebt und löst sich auf im Wirrwarr gesellschaftlicher Geschäftigkeit.

 

Ein Fazit zum Wissenschaftsstreit

Beide Polpositionen führen zu einer Politisierung innerhalb der wissenschaftlichen Gemeinschaft, die sich letztlich negativ auf Wissenschaft auswirkt, insofern Wissenschaft als eine Tätigkeit verstanden wird, bei der die eigene Aufmerksamkeit und die eigenen Handlungen systematisch an epistemischen Werten ausgerichtet sind. Diese Politisierung innerhalb der wissenschaftlichen Gemeinschaft nährt zudem die Polarisierung in gesellschaftlichen Disputen. Wenn die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler sich gegenseitig misstrauen und ihre Beiträge als politische Machtspielereien ansehen, dann färbt dies auf die breitere Gesellschaft ab.


Dies konnte zuletzt während der Coronapandemie eindrücklich beobachtet werden. Zwar stand damals ein leicht anderer Disput im Zentrum, nämlich wie weit und wie eilig wissenschaftliche Erkenntnisse die politischen Entscheidungen und gesellschaftlichen Praktiken bestimmen sollten, angesichts einer akuten Gesundheitskrise und weiteren praktisch relevanten Werten wie individuelle Freiheit, gesellschaftliche Pflichten und Stabilität, staatliche Legitimität, usw. Nichtsdestotrotz zeichneten sich auch damals zwei Lager ab: Auf der einen Seite zweifelten manche Leute jede Orientierungshilfe und Lösungsansätze an, die aus den Wissenschaften in die Öffentlichkeit getragen wurden. Wie das aufständische Lager in der wissenschaftlichen Gemeinschaft witterte man an jeder Ecke unlautere ökonomische oder politische Interessen. Auf der anderen Seite wurde jede Kritik an diesen Orientierungshilfen und Lösungsansätzen verschmäht. Wie die Ignoranten der wissenschaftlichen Gemeinschaft verklärte man die Wissenschaft zur unzweifelhaften Führerin mit der wegweisenden Fackel der objektiven Wahrheit.


Beide Strategien führen zu unnötigen Streitigkeiten im öffentlichen Diskurs und sind somit kontraproduktiv für eine gesellschaftliche Willensbildung, die mindestens so viel Einvernehmen mitbringt, wie dies für die langfristige Stabilität von liberalen Demokratien notwendig ist.

 

Anwendung auf die Vorwürfe gegen die Gazaproteste

Wo belassen uns nun all diese Ausführungen mit Blick auf die Fragen nach neutraler Wissenschaft, die im Laufe der Gazaproteste an den Universitäten erneut aufgekommen ist?

Es zeigt vor allem, dass man sich davor hüten sollte, die Fragen vorschnell mit Ja oder Nein beantworten zu wollen. Das Thema gehört zu einer enorm komplexen Auseinandersetzung, die innerhalb der wissenschaftlichen Gemeinschaft bereits seit Jahrzenten und Jahrhunderten geführt wird und regelmässig in den breiteren öffentlichen Diskurs überschwappt. Bereits der Begriff der neutralen Wissenschaft ist darin umstritten.


Zusätzlich spielen im Kontext gesellschaftlicher Ereignisse wie den Universitätsbesetzungen noch weitaus mehr Überlegungen eine Rolle, die über den wissenschaftstheoretischen Diskurs über Werte und Wissenschaften hinausgehen.


Doch gehen wir einmal davon aus, dass neutrale Wissenschaft bedeutet, dass die wissenschaftliche Tätigkeit der Forschenden systematisch auf epistemische Werte ausgerichtet ist, sodass ein epistemischer Wert innerhalb wissenschaftlicher Tätigkeit nur in stark begründeten Fällen zugunsten eines nicht-epistemischen Wertes weichen muss; Ich denke hier insbesondere an ethische Einschränkungen für die Forschung. In diesem Fall muss festgestellt werden, dass das Besetzen einer Universität per se keine wissenschaftliche Tätigkeit ist und somit die Neutralität der Wissenschaft nicht betrifft.


Betrachtet man sich die Forderung der Protestierenden, die Forschungsbeziehungen zu israelischen Universitäten abzubrechen, so tangiert diese die Neutralität der wissenschaftlichen Tätigkeit der einzelnen Forschenden ebenfalls nicht direkt. Vielmehr betrifft diese Forderung die Neutralität der Wissenschaft als Institution. Es mag zwar unbestritten sein, dass Wissenschaft als Institution in erster Linie auf epistemische Werte ausgerichtet sein soll und die Forderung der Protestierenden keine epistemischen Werte im Blick hat. Dennoch ist es missverständlich, zu glauben, dass die Rahmenbedingungen der wissenschaftlichen Institutionen allein mit Blick auf epistemische Werte festgelegt werden können und sollen. 


Wissenschaftliche Institutionen sind nur einige von vielen gesellschaftlichen Institutionen. Die Gestaltung gesellschaftlicher Institutionen bedarf in liberal-demokratischen Gesellschaften daher eines öffentlichen politischen Diskurses, in dem stets mehrere praktisch relevante Gesichtspunkte zum Tragen kommen. Wenn eine Gesellschaft beschliesst, wissenschaftliche Institutionen einen Platz zu geben, beschliesst sie damit auch epistemischen Werten einen Platz zu geben und ihnen eine gewisse Wichtigkeit zuzuschreiben.


Allerdings wäre es verfehlt, bei der Bestimmung der institutionellen Rahmenbedingungen für Wissenschaft epistemische Werte kategorisch allen anderen Gesichtspunkten voranzustellen – man denke allein an grundlegende Aspekte wie Gleichstellung und gerechte Anstellungsbedingungen. Dass bedeutet keineswegs, die zentrale Rolle epistemischer Werte in wissenschaftlichen Institutionen zu leugnen, sondern einzugestehen, dass in der Schaffung von Institutionen zum Zweck eines gerechten und beständigen gesellschaftlichen Zusammenlebens epistemische Werte auch gegen andere Werte abgewogen werden müssen. 


Die Herausforderung bei der Gestaltung und Führung wissenschaftlicher Institutionen in einer Gesellschaft besteht am Ende darin, eine Balance herzustellen zwischen den Werteabwägungen im gesellschaftlichen Diskurs und dabei institutionelle Rahmenbedingungen für wissenschaftliche Tätigkeit zu schaffen und zu bewahren, die dafür sorgen, dass im Zentrum der Arbeit der einzelnen Forschenden, so weit wie es möglich und moralisch vertretbar ist, allein epistemische Werte stehen.


Inwiefern die Forderung der Protestierenden dies verhindern, ist Teil des gesellschaftlichen Diskurses. Es zeigt sich jedoch, dass es irreführend ist, das Kriterium der wissenschaftlichen Neutralität beziehungsweise des alleinigen Ausgerichtseins auf epistemische Werte auf Wissenschaft als Institution anzuwenden. Die Abwägung verschiedener Werte ist inhärenter Teil der Gestaltung wissenschaftlicher Institutionen.


Zu guter Letzt sind da abseits der Besetzungen noch die Vorwürfe an die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler mancher akademischen Disziplinen, ihre Forschung wäre inhärent und systematisch von politischer Ideologie durchzogen. Diese Hypothese wäre anhand der Arbeiten aus den verdächtigten Disziplinen zu überprüfen. Ein generelles Urteil wird sich dabei wohl kaum verifizieren lassen, reicht doch eine neutrale Arbeit aus der Disziplin aus, um die verallgemeinerte Hypothese zu widerlegen. Zudem begibt man sich damit in die Gefilde der Jahrhunderte währenden wissenschaftstheoretischen Debatten, die ich mit groben Pinselstrichen zu skizzieren versucht habe. Letztlich ist eine pauschale Disqualifizierung von Forschung aufgrund ihrer Zugehörigkeit zu einer bestimmten Disziplin genau das Gleiche, wie eine pauschale Disqualifizierung von Forschung aufgrund der Zugehörigkeit der Forschenden zu einer geschlechtlich, kulturell oder sozioökonomisch bestimmten Gruppe: Politik und nicht Wissenschaft!  

 

Schluss

Summa summarum kommt wissenschaftliche Tätigkeit nicht ohne Werturteile aus. Das schliesst jedoch nicht aus, dass sie sich in erster Linie und so weit wie es vernünftig ist an epistemischen Werten orientieren und Forschende ihre Entscheidungen mit Rückgriff auf diese Werte begründen sollten. Die menschlichen und epistemologischen Hürden der Wissenschaft sollten durchaus ernstgenommen werden, um diese Orientierung so gut wie möglich zu gewährleisten. Doch angesichts dieser Hürden die Flinten ins Korn zu werfen und die Suche nach Erkenntnis zu einem Ringen um Macht umzudeuten, ist genauso verfehlt, wie die Werteinflüsse und die Hürden zu leugnen.


In der breiteren öffentlichen Diskussion muss differenziert werden zwischen Wissenschaft als Institution und Wissenschaft als Tätigkeit. Wenn es um Wissenschaft als Tätigkeit geht, sollten die wissenschaftstheoretischen Debatten angesichts ihrer Komplexität und Umfänglichkeit weitgehend der wissenschaftlichen Gemeinschaft überlassen werden. Diese sollte allerdings wiederum angehalten sein, sich weiterhin ernsthaft und unaufgeregt damit auseinanderzusetzen. Wenn es um die Gestaltung wissenschaftlicher Institutionen geht, ist die Gewichtung der epistemischen Werte Teil des demokratischen Diskurses. Doch auch hier gilt, dass wissenschaftliche Institutionen ihren Auftrag nur erfüllen können, wenn epistemischen Werten genügend Platz eingeräumt werden.


Das hehre Ideal einer aufrichtigen nach Wissen und Wahrheit strebenden Wissenschaft im Sinne eines universellen menschlichen Gutes ist und bleibt dabei auf beiden Ebenen, der Ebene der Tätigkeit und der Institutionen, enorm wichtig. Denn eine Gesellschaft die das Ideal der Wissenschaft aufgibt, wird zuletzt auch die Wissenschaft selbst aufgeben.

 

 

Anmerkungen

[1] Vgl. Berichte von The Guardian oder CNN (Kassam 2024; Regan 2024).

[2] Vgl. SRF Tagesgespräch vom 11. Mai 2024 mit Michael Hengartner, ehemaliger Rektor der UZH und aktueller Präsident des ETH-Rats, zur Frage «Wie neutral ist Forschung?» Link: SRF Tagesgespräch vom 11. Mai 2024 

[3] Vgl. den Kommentar von Thomas Ribi in der NZZ (Ribi 2023).

[4] Vgl. (Schurz und Carrier 2013)

[5] Vgl. (Godfrey-Smith 2003).

[6] Für ein Beispiel aus der jüngsten Vergangenheit kann der sogenannte «Sokal Squared»-Vorfall genannt werden; Vgl. (Lindsay, Boghossian, und Pluckrose 2018). Die Aufarbeitung des Vorfalls hält weiter an: Vgl. (Cole 2023).

[7] Vgl. (Hempel 2013 [1960])

[8] Vgl. (Koertge 2005)

[9] Vgl. (Schurz und Carrier 2013, 7-30)

[10] Vgl. (Longino 2013 [2008])

[11] Vgl. (Kuhn 2023 [1962]; Barnes, Bloor, und Henry 1996; Godfrey-Smith 2003; Rothman, Kelly-Woessner, und Woessner 2011)

[12] Vgl. (Longino 2013)

[13] Vgl. (Barnes und Bloor 1982)

[14] Vgl (Latour und Woolgar 1981)

[15] Vgl. (Godfrey-Smith 2003; Schurz und Carrier 2013)

[16] Vgl. (Van Dalen und Henkens 2012; Rawat und Meena 2014; Davies und Felappi 2017; Könneker 2018; Conradi 2021)

[17] (Kuhn 2023 [1962])

[18] Auch hier kann es vernünftige Einschränkungen geben. Zum Beispiel: Selbst wenn Versuche am Menschen zur Produktion neuer Technologien mit Blick auf den Wert der Erkenntnis gerechtfertigt werden könnten, würden wohl nur wenige bestreiten, dass ethische Werturteile in solchen Fällen höher gewichtet werden sollten. 

[19] Vgl. (Reiss 2013; 2017)



Literatur:

  • Barnes, Barry, und David Bloor. 1982. „Relativism, Rationalism and the Sociology of Knowledge“. In Rationality and relativism, herausgegeben von Martin Hollis und Steven Lukes, 1st MIT Press ed, 21–47. Cambridge, Mass: MIT Press.

  • Barnes, Barry, David Bloor, und John Henry. 1996. Scientific Knowledge: A Sociological Analysis. London: Athlone.

  • Cole, Geoff G. 2023. „A Re-Evaluation of the Grievance Studies Affair“. Humanities 12 (5): 116. https://doi.org/10.3390/h12050116.

  • Conradi, Friedrich. 2021. „Publish or Perish: Publikationsdruck gefährdet die wissenschaftliche Forschung“. Berliner Zeitung. 22. Mai 2021. https://www.berliner-zeitung.de/wochenende/publish-or-perish-viele-publikationen-richten-mehr-schaden-als-nutzen-an-li.160022.

  • Davies, Benjamin, und Giulia Felappi. 2017. „Publish or Perish“. Metaphilosophy 48 (5): 745–61. https://doi.org/10.1111/meta.12269.

  • Godfrey-Smith, Peter. 2003. Theory and Reality: An Introduction to the Philosophy of Science. University of Chicago Press.

  • Hempel, Carl G. 2013. „Wissenschaft und menschliche Werte“. In Werte in den Wissenschaften, herausgegeben von Gerhard Schurz und Martin Carrier, 118–40. Berlin: Suhrkamp.

  • Kassam, Ashifa. 2024. „Clashes and Arrests as Pro-Palestinian Protests Spread across European Campuses“. The Guardian, 8. Mai 2024, Abschn. World news. https://www.theguardian.com/world/article/2024/may/08/pro-palestine-student-protests-campuses-europe-arrests-police.

  • Koertge, Noretta, Hrsg. 2005. „A Bouquet of Scientific Values“. In Scientific Values and Civic Virtues, 1. Aufl., 9–24. Oxford University PressNew York. https://doi.org/10.1093/0195172256.003.0002.

  • Könneker, Carsten. 2018. „Predatory Journals: Das »Publish or perish«-Diktat muss enden“. Spektrum Wissenschaft (blog). 20. Juli 2018. https://www.spektrum.de/kolumne/das-publish-or-perish-diktat-muss-enden/1579710.

  • Kuhn, Thomas S. 2023. Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen. Übersetzt von Hermann Vetter. Zweite revidierte und um Das Postskriptum von 1969 ergänzte Auflage, 27. Auflage. Suhrkamp-Taschenbuch Wissenschaft 25. Frankfurt am Main: Suhrkamp.

  • Latour, Bruno, und Steve Woolgar. 1981. Laboratory life: the social construction of scientific facts. 2. print. Sage library of social research 80. Beverly Hills: Sage.

  • Lindsay, James A., Peter Boghossian, und Helen Pluckrose. 2018. „Academic Grievance Studies and the Corruption of Scholarship“. Aero Magazine (blog). 2018. https://areomagazine.com/2018/10/02/academic-grievance-studies-and-the-corruption-of-scholarship/.

  • Longino, Helen. 2013. „Werte, Heuristiken und die Politik des Wissens“. In Werte in den Wissenschaften, herausgegeben von Gerhard Schurz und Martin Carrier, 209–32. Berlin: Suhrkamp.

  • Rawat, Seema, und Sanjay Meena. 2014. „Publish or perish: Where are we heading?“ Journal of Research in Medical Sciences : The Official Journal of Isfahan University of Medical Sciences 19 (2): 87–89.

  • Regan, Helen. 2024. „Where Pro-Palestinian University Protests Are Happening around the World“. CNN. 3. Mai 2024. https://www.cnn.com/2024/05/03/world/pro-palestinian-university-protests-worldwide-intl-hnk/index.html.

  • Reiss, Julian. 2013. Philosophy of Economics: A Contemporary Introduction. Routledge Contemporary Introductions to Philosophy. New York (N.Y.): Routledge.

  • ———. 2017. „Fact-Value Entanglement in Positive Economics“. Journal of Economic Methodology 24 (2): 134–49. https://doi.org/10.1080/1350178X.2017.1309749.

  • Ribi, Thomas. 2023. „Die Geisteswissenschaften driften in Aktivismus ab“. Neue Zürcher Zeitung, 12. Dezember 2023, Abschn. Meinung. https://www.nzz.ch/meinung/schweizer-unis-ideologie-statt-wissenschaft-ld.1769858.

  • Rothman, Stanley, April Kelly-Woessner, und Matthew Woessner. 2011. The still divided academy: how competing visions of power, politics, and diversity complicate the mission of higher education. Lanham, Md: Rowman & Littlefield Publishers.

  • Schurz, Gerhard, und Martin Carrier, Hrsg. 2013. Werte in den Wissenschaften: neue Ansätze zum Werturteilsstreit. Erste Auflage, Originalausgabe. Suhrkamp Taschenbuch Wissenschaft 2062. Berlin: Suhrkamp.

  • Van Dalen, Hendrik P., und Kène Henkens. 2012. „Intended and Unintended Consequences of a Publish‐or‐perish Culture: A Worldwide Survey“. Journal of the American Society for Information Science and Technology 63 (7): 1282–93. https://doi.org/10.1002/asi.22636.


bottom of page