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Staatliche Legitimität und Populismus: Wie Populismus die liberale Demokratie bedroht


BILD_Populistischer Politiker vor Anhänger


Der Populismus ist im Aufwind. Diese Feststellung ist nicht neu, sondern grenzt an eine Untertreibung. Vielmehr hat sich der Populismus an der Spitze eines Tornados platziert und tobt nun durch die politische Landschaft. Ein wesentlicher Faktor, der ihn so zerstörerisch macht und gleichzeitig weiter anheizt, besteht in dem Umstand, dass er das allgemeine Empfinden und Verständnis staatlicher Legitimität untergräbt und verarmen lässt. In der Konsequenz destabilisiert der Populismus die liberal-demokratische Gesellschaftsordnung.


Dabei ist der Populismus nicht zwingend an eine politische Gesinnung gebunden, sondern ein sich immer stärker Bahn brechendes Phänomen des aufgeheizten politischen Klimas unserer Zeit. Angesichts dieses Klimas ist es eminent wichtig, dass wir uns vor Augen führen, wie komplex und vielschichtig staatliche Legitimität eigentlich ist.


Dieser Essay erläutert zunächst das Konzept staatlicher Legitimität, widmet sich dann dem Phänomen des Populismus und wie es staatlicher Legitimität und damit gesellschaftlicher Stabilität schadet und erinnert zu guter Letzt an verschiedene Dimensionen staatlicher Legitimität, die durch den Populismus drohen in Vergessenheit zu geraten.

 

Das Konzept staatlicher Legitimität

Staatliche Legitimität ist ein essenzielles Gut unserer modernen liberal-demokratischen Gesellschaftsordnungen und dennoch wird sie in öffentlichen politischen Debatten in der Regel nicht ausdrücklich diskutiert. Wenige vermögen zu erklären, worum es sich dabei handelt. Nichtsdestotrotz spielt sie implizit eine ständige Rolle in politischen Auseinandersetzungen und für das Funktionieren unseres geordneten Zusammenlebens.


In einem deskriptiven Sinn bezeichnet staatliche Legitimität das Empfinden und die Überzeugung der Teilhabenden einer staatlichen Gesellschafts-ordnung, dass die Autorität des Staates gerechtfertigt ist (vgl. Cerutti 2017, 25). Im Allgemeinen verfügt ein Akteur über Autorität, wenn ein gewisser normativer Druck besteht, ihm zu gehorchen. Autorität reklamiert ein Gebot des Gehorsams.[1] Übertragen wir dieses Verständnis auf den Staat, so bezeichnet staatliche Autorität eine gewisse Gebotenheit, die staatlichen Institutionen zu respektieren, seine Regeln zu befolgen sowie seine Entscheidungen zu akzeptieren und umzusetzen. Deskriptive staatliche Legitimität ist also eine gesellschaftliche Stimmung oder Einschätzung, ob dieser normative Druck gerechtfertigt ist. Dabei äussert sie sich sowohl gefühlt als auch intellektuell.


Demgegenüber steht die normative staatliche Legitimität. Sie besteht dort, wo die Autorität des Staates nicht bloss der öffentlichen Einschätzung nach, sondern tatsächlich gerechtfertigt ist. Die öffentliche Einschätzung staatlicher Legitimität kann nämlich auch daneben liegen.


Zur Veranschaulichung stelle man sich vor, man nähme an einer Weiterbildung teil. Die Kursleitung geniesst in diesem Kontext eine gewisse Autorität. Wenn wir an der Veranstaltung teilnehmen, ist es im Rahmen der Weiterbildung prima facie geboten, ihren Anleitungen und Regeln Folge zu leisten. Wenn wir nun die Kursteilnehmenden befragen, ob sie die Autorität der Kursleitung für gerechtfertigt halten, gelangen wir zu einer Erkenntnis über die deskriptive Legitimität (der Autorität) der Kursleitung.


Diese Einschätzung kann jedoch im Argen liegen. Womöglich halten alle Teilnehmenden die Autorität der Kursleitung für gerechtfertigt, in Wirklichkeit aber handelt es sich um einen Blender, der weder über pädagogische Fähigkeiten verfügt noch über das Weiterbildungsthema Bescheid weiss. Normative Legitimität kommt der Kursleitung erst dann zu, wenn ihre Autorität tatsächlich gerechtfertigt ist – in diesem Fall zum Beispiel durch Expertise in dem unterrichteten Gebiet und pädagogischen und didaktischen Fähigkeiten, diese Inhalte zu vermitteln.


In liberal-demokratischen Gesellschaftsordnungen wird vom Staat erwartet, dass seine Autorität normativ legitim ist und nicht lediglich darauf gründet, dass er ein Gewaltmonopol innehat. Da Gesellschaft, Gesellschaftsordnung und Staat jedoch keine statischen Entitäten sind, sondern ständigem Wandel unterliegen, ist die staatliche Legitimität nicht so einfach festzumachen. Es handelt sich um kein Gütesiegel, mit dem ein Staat einmalig ausgezeichnet wird. Stattdessen ist staatliche Legitimation, also die Rechtfertigung und Begründung staatlicher Legitimität, ein ständiger gesellschaftlicher Prozess und staatliche Legitimität ist somit ein gesellschaftliches Gut, das in diesem Prozess laufend anwachsen oder schwinden kann.


In der staatlichen Legitimation innerhalb einer liberalen Demokratie stehen deskriptive und normative staatliche Legitimität in komplexer Wechselwirkung, die zu untersuchen, weit über das hinausgeht, was in diesem Essay geleistet werden kann. Nichtsdestotrotz lässt sich folgender Zusammenhang postulieren: Setzt sich eine liberal-demokratische Gesellschaft in ihrem Bildungssystem sowie im öffentlichen wissenschaftlichen und politischen Diskurs auf eine Weise mit den Funktionsweisen einer gerechten liberal-demokratischen Gesellschaftsordnung auseinander, die der Komplexität der Sache gerecht wird, so wirkt sich das positiv auf die staatliche Legitimität aus. Einerseits verbessert sich das Verständnis für die Bedingungen normativer staatlicher Legitimität in einer solchen Gesellschaftsordnung. Andererseits führt es zu einer angemesseneren Einschätzung der aktuellen staatlichen Legitimität – deskriptive und normative Legitimität gleichen sich an. Ist das Verständnis allerdings nicht gegeben, steigt die Wahrscheinlichkeit, dass staatliche Autorität als legitim erachtet wird, die einer liberal-demokratischen Gesellschaftsordnung unangemessen ist. In der Folge kann sich diese destabilisieren und zu einer neuen Gesellschaftsordnung wandeln.

 

Populismus und staatliche Legitimität

Das Phänomen des Populismus ist vielseitig und komplex. Es besteht daher kein Anspruch das Phänomen im Folgenden vollumfänglich zu beleuchten. Gleichwohl lässt sich feststellen, dass Populismus insbesondere zwei Merkmale aufweist, die sich in liberalen Demokratien schmälernd auf die staatliche Legitimität auswirken.


Erstens baut Populismus in seiner Rhetorik einen politischen Grabenkampf auf (vgl. Mudde & Kaltwasser 2017). Die Populisten stehen auf der Seite des nach ihrem Verständnis wesentlichen Teils der Bevölkerung. Diesem steht auf feindlicher Seite eine etablierte Obrigkeit gegenüber. Diese gilt es zu bekämpfen, weil sie ihre gewaltige Macht gegen das Interesse des wesentlichen Teils der Bevölkerung einsetzt. Populisten inszenieren sich damit nicht nur beständig als diejenigen, die auf der Seite des wichtigsten Bevölkerungsteils stehen und sich für die Interessen desselben einsetzen, sondern sie stilisieren sich zugleich als Opfer, unterdrückt durch eine feindselige Übermacht; die Obrigkeit, die Eliten, die Privilegierten, der Mainstream, das Establishment.


Was letztlich der wesentliche Teil der Bevölkerung ist und wer die etablierte Obrigkeit stellt, unterscheidet sich je nach politischer Ideologie. Auf der rechten Seite des politischen Spektrums kämpfen die Populisten oft mit «dem Volk» gegen die etablierte «politische Elite» oder «den Mainstream». In der Mitte finden sie sich beispielsweise auf der Seite des unternehmerischen Mittelstandes und verteidigen diesen gegen den entmündigenden und enteignenden Sozialstaat. Schliesslich lehnen sich die linken Populisten mit der Arbeiterschaft gegen die kapitalistische Elite auf, mit den unterdrückten Minderheiten gegen die privilegierte Mehrheit, mit der jungen und noch ungeborenen Generationen gegen die etablierten Machthaber, die den Planeten in eine klimatische Katastrophe wirtschaften.[2] 


In all diesen Fällen wird der Staat, wenn nicht als Ebenbild der feindseligen etablierten Obrigkeit, so doch als Komplize derselben dargestellt. Rechts gehören die weltfremden Parlamentarier und Bürokraten zur politischen Elite, die schon lange den Draht zu den wahren Sorgen der Menschen verloren hat. Links ist der Staat mit der kapitalistischen Oberschicht verbandelt und schützt deren Interessen, indem er ihnen weiter Privilegien einräumt und nichts gegen den Klimawandel unternimmt. In der bürgerlichen Mitte verfällt man dagegen nur allzu rasch und leichtfüssig in einen selbstgerechten Libertarismus, aus dessen Sicht der Staat sich räuberisch am Wohlstand und den Rechten des hilflosen Mittelstandes vergreift.


Das Ergebnis dieser populistischen Zerrbilder ist eine pauschale Minderung deskriptiver staatlicher Legitimität. Der Populismus sät Zwietracht und vermittelt das Gefühl einem Staat ausgesetzt zu sein, der offenen Auges und absichtlich gegen die Interessen eines wesentlichen Teils seiner Bevölkerung arbeitet.


Hinzu kommt ein zweites Merkmal des Populismus, das der staatlichen Legitimität abträglich ist.  Es besteht im Rückgriff auf ein unterkomplexes, einseitiges Verständnis von staatlicher Legitimität, wenn immer die eigenen Ideen propagiert werden.[3] Dabei ist es nicht so, dass völlig verquere Vorstellungen staatlicher Legitimität verbreitet würden. Vielmehr wird im Vorantreiben der eigenen Agenda primär auf einen einzigen Aspekt staatlicher Legitimität zurückgegriffen, der damit als derart essenziell dargestellt wird, dass der Staat nur illegitim sein kann, sollte dieser Aspekt in den beanstandeten Fällen nicht realisiert werden. Damit geht eine mangelnde Kompromissbereitschaft, die zu den bereits erwähnten Grabenkämpfen führt einher.


Die am weitesten verbreitete Verständnisverknappung dieser Art in unserer Zeit ist die Glorifizierung des Volkswillens. Staatliches Handeln, staatliche Regeln und Institutionen sind demnach genau dann legitim, wenn sie durch den Volkswillen abgesegnet wurden oder diesem entsprechen.


Zwar ist es unbestreitbar, dass die demokratische Legitimität eines Staates sich unter anderem aus dem Umstand ergibt, dass die Bevölkerung über Wahlen und Abstimmungen eine Mitsprache bezüglich der Regeln, Entscheidungen und Institutionen erhält, denen sie unterworfen wird.  Nichtsdestotrotz lässt sich leicht einsehen, dass ein alleiniges Abstellen auf diese Facette staatlicher Legitimität kurzsichtig ist.


Dazu muss man sich lediglich vor Augen führen, dass es durchaus zur Stärkung der Legitimität eines liberal-demokratischen Staates beiträgt, dass die Bevölkerung nicht über Hinrichtungen, die Wiedereinführung von Sklaverei, Abschiebungen, Grenzschliessungen und kriegerische Eroberungspläne abstimmen kann und dass die Wahl eines autoritär gesinnten Politikers in ein exekutives Amt, ihn nicht unmittelbar zum autoritären Regieren legitimiert.


Ein anderes Beispiel findet sich in der Vorstellung, dass ein Staat nur legitim sein kann, wenn er mit seinen Regeln und Institutionen allen individuellen Bedürfnissen und Lebenslagen, die in seiner Bevölkerung aufkommen, gerecht werden kann; jedes Kind braucht seine eigene ihm angemessene Beschulung, jede Person muss immer dort abgeholt werden, wo sie gerade steht, jede persönliche Benachteiligung, jedes äussere Hindernis bezüglich allen möglichen Bestrebungen müssen ausgeglichen werden. Obschon auch in diesem Anspruch ein wichtiges Element für die normative Legitimität des liberal-demokratischen Staates steckt, greift ein alleiniger Bezug darauf zu kurz. Es leuchtet nämlich durchaus ein, dass im Sinne der Funktionalität und der gerechten Behandlung aller, auch dieses Anliegen teil- und legitimerweise in Kompromissen münden müssen.  


Die Konsequenz aus diesem Merkmal des Populismus ist die Verbreitung einer unterkomplexen Vorstellung staatlicher Legitimität. Dadurch driften deskriptive und normative Legitimität auseinander. Die Stabilität der liberal-demokratischen Gesellschaftsordnung bröckelt und wo zu einseitige oder andersartige Ideen staatlicher Legitimität überhandnehmen, wandelt sich die bestehende Gesellschaftsordnung hin zu einer neuen. Diese ist vermutlich in ihrer Machtverteilung weniger ausgeglichen und bezüglich des allgemeinen Wohlstands sowie der negativen und positiven Freiheiten weniger wünschenswert als eine liberale Demokratie.

 

Dimensionen staatlicher Legitimität

Um populistischen Betrachtungen etwas entgegensetzen zu können, braucht es also unter anderem ein Verständnis staatlicher Legitimität in einer liberalen Demokratie. Dieser dritte Abschnitt soll daher einen flüchtigen Überblick über verschiedene Dimensionen einer solchen staatlichen Legitimität bieten.[4] 


Die staatliche Legitimität einer liberalen Demokratie ergibt sich nur partiell aus den Partizipationsmöglichkeiten der Bevölkerung beziehungsweise aus der demokratischen Legitimität des Staates. Die demokratische Legitimität des Staates drückt sich einerseits durch die Abstimmungen und Wahlen aus. Rosanvallon (2010, 26) spricht in diesem Fall von der «Einsetzungslegitimität»; die Bevölkerung setzt ihre Regierung, ihre Gesetzgeber, ja – in manchen Demokratien wie der Schweiz – sogar ihre Gesetze selber ein.


Zur demokratischen Legitimität gehören allerdings noch weitere politische Partizipationsmöglichkeiten. Die Gründung von politisch aktiven Vereinen und Verbänden (Vereinigungsfreiheit) sowie der Möglichkeit sich in politischen Gremien zu engagieren, Gehör zu finden, sein Fachwissen einzubringen und die Normschaffung mitzugestalten – meist als Vertretung eines betroffenen Verbandes oder Vereins. Liberale Demokratien sind voller Kommissionen, Thinktanks, Projektteams, Arbeitsgruppen, die im Verlauf eines Rechtssetzungsprozesses zusammengesetzt werden, um den Prozess zu begleiten und zu unterstützen.


Der Informationsaustausch und die Rechtfertigungsarbeit, die im Rahmen dieser gesellschaftlichen Partizipation geleistet werden, führen zu einer – wie Rosanvallon (2010, 209) es nennt – «Legitimität der Nähe». Rechtssetzung und Politik findet nicht entrückt von der Bevölkerung statt, sondern nimmt Züge eines genuin öffentlich-gesellschaftlichen Prozesses an.


Zur Legitimität der Nähe gehört auch der Anspruch, dass alle Betroffenen Gehör finden, dass ihre Lebensrealitäten in ihrer Besonderheit gewürdigt und bestmöglich berücksichtigt werden. Eine ähnliche Herleitung der legitimen Autorität demokratischer Staaten findet sich in Estlunds (2008) epistemischem Prozeduralismus: Die demokratische Legitimität ergibt sich daraus, dass Rechtssetzungs- und Entscheidungsprozesse nicht nur fair im Sinn politischer Gleichheit vonstattengehen, sondern dass sie auch einen epistemischen Mehrwert mit sich bringen.


Die Legitimität eines liberal-demokratischen Staates ergibt sich allerdings nicht alleine aus der demokratischen Legitimität.[5] 


Eine weitere notwendige Form staatlicher Legitimität können wir als Erfüllungs- oder Leistungslegitimität bezeichnen. Wo die Mechanismen demokratischer Legitimität zu Parteilichkeit und politischer Kartellbildung verleitet, wird vom Staat – konkret von den Verwaltungen und anderen Staatsangestellten – erwartet, dass er eine gewisse Objektivität und Professionalität an den Tag legt, die sich nicht von einseitiger Parteipolitik korrumpieren lässt. Dieser Bestandteil des Staates wird in der Regel nicht gewählt. Die Leute werden aufgrund ihrer Ausbildung und Kompetenzen eingesetzt. Für manche Stellen ist das Absolvieren von langwierigen Ausbildungen und anspruchsvollen Prüfungen notwendig – man denke an Polizeibeamte, Juristen, Lehrpersonen, Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler.


Die Erfüllungs- oder Leistungslegitimität resultiert in erster Linie aus der professionellen Durchführung und Umsetzung der staatlichen Funktionen, setzt sich jedoch aus mehreren Legitimitätsanforderungen zusammen, die nicht durchgängig auf alle staatlichen und quasi-staatlichen Organe gleichermassen zutreffen müssen.


Zum einen gibt es ist die «Legitimität durch die Identifizierung mit der Allgemeinheit» (Rosanvallon 2010, 45). Von geradezu allen staatlichen und quasi-staatlichen Organen wird verlangt, dass sie ihre Tätigkeit im Interesse der Allgemeinheit ausführen und dabei keinen persönlichen oder einseitigen parteiischen Interessen oder Ideologien nacheifern; Sie führen ihre Funktionen im Interesse des Zusammenhalts und des Wohls der Gesellschaft sowie in Übereinstimmung mit den geltenden Gesetzen aus; Die Rechtstaatlichkeit wird gewährleistet.


Damit geht eine gewisse Legitimität der Unparteilichkeit sowie eine Legitimität der Unabhängigkeit einher (vgl. zur Unterscheidung Rosanvallon 2010, 117). Unparteilichkeit meint, dass niemandem unlautere Vorteil oder sonstige fragwürdige Privilegien gewährt werden. Gleichermassen darf niemand diskriminiert und ungerechtfertigt benachteiligt werden; jedem steht ein faires Gerichtsverfahren zu und für alle gelten die gleichen Gesetze, alle müssen unter gleich Umständen von der Polizei gleichbehandelt werden, allen stehen unter gleichen Umständen die gleichen Leistungen des Staates zu, alle werden unter gleichen Umständen zu gleichen Beiträgen zum Gemeinwesen verpflichtet. Unabhängigkeit meint indessen die Unbestechlichkeit im eigenen Tun. Sie garantiert jedoch noch keine Unparteilichkeit.


Die Signifikanz von Unparteilichkeit und Unabhängigkeit sind besonders hervorzuheben bei Richtern, aber insbesondere auch bei quasi-staatlichen Organen wie Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern an staatlich getragenen Hochschulen und Forschungsinstituten, Medienschaffenden in staatlich getragenen Medienhäusern, oder Angestellten der Nationalbank oder gewisser Aufsichtsbehörden.  Ihre Legitimität erwächst wesentlich aus dem Anspruch, dass sie nicht von parteipolitischen Ansichten vereinnahmt werden, sondern unabhängig gemäss ihrer Profession ihre Funktionen erfüllen. Dennoch treffen diese Ansprüche nicht bei allen gleichermassen zu. Ein Staatsanwalt soll nicht unparteiisch, jedoch sehr wohl unabhängig sein. Bei Forschenden überwiegt je nach Umständen und Disziplin zuweilen der Anspruch der Unparteilichkeit oder der Unabhängigkeit, um ihre staatliche Funktion zu gewährleisten.[6]


Rosanvallon (2010) betont die Wichtigkeit der quasi-staatlichen Organe für die Legitimität moderner liberal-demokratischer Staaten, weil sie deutlich besser dazu geeignet sind, die Anforderungen der Unparteilichkeit und der Unabhängigkeit zu erfüllen als Verwaltungsangestellte. Die obersten Vorgesetzten einer Verwaltung gehören nämlich direkt einer Partei an.  Damit werden Verwaltungsangestellt stets von Parteimitgliedern geführt und sie sind dem Risiko oder dem Verdacht ausgesetzt, parteipolitisch vereinnahmt zu werden.[7] Des Weiteren sind diese Organe ebenfalls gut geeignet eine letzte nennenswerte Form der Legitimität zu gewährleisten, namentlich die Legitimität der Reflexivität (vgl. Rosanvallon 2010, 151).


Hinter der Legitimität der Reflexivität steckt die Idee, dass die Autorität eines liberal-demokratischen Staates auch darauf abgestützt sein soll, dass seine Entscheidungen sachlich korrekt durchdacht und evidenzbasiert gefällt werden. Der Gedanke, dass die Legitimität eines liberal-demokratischen Staates unter anderem einen epistemischen Ursprung hat, findet sich auch bei Peter (2023) oder Estlund (2008). Dazu gehört der bereits erwähnte in der demokratischen Legitimität verankerte epistemisch wertvolle demokratische Prozess.


Zusätzlich kommt das Moment einer unabhängigen, rationalen Überprüfung staatlichen Handelns hinzu. Für diese Legitimität der Reflexivität können neben Gerichten auch quasi-staatliche Organe wie Medienhäuser und Universitäten viel leisten. Genauso wie Experteninstitutionen mit Entscheidungsbefugnissen wie eine Nationalbank und unabhängige Aufsichtsbehörden. Ausserdem kann aus dieser Perspektive die legitimierende Funktion ratifizierter internationaler Gremien – wie beispielsweise der UNO oder des Europäischen Menschenrechtsgerichtshofes – für moderne Demokratien verdeutlicht werden.


Schluss 

All diese Bestandteile – und vermutlich noch weitere – wirken zusammen, um die staatliche Legitimität in einer liberal-demokratischen Gesellschafts-ordnung zu gewährleisten. Das Vergehen des Populismus an der liberalen Demokratie besteht nicht allein darin, die legitime Autorität des Staates zu diffamieren, sondern zusätzlich eine simplifizierte Vorstellung legitimer Autorität zu propagieren, die einer liberal-demokratischen Gesellschafts-ordnung nicht gerecht wird. Anstatt solchen Karikaturen verbitterter Machtbestrebungen nachzugeben, sollten wir uns vor Augen führen, welche grossartige Entwicklung liberale Demokratien in den letzten Jahrzehnten hingelegt haben, sodass ihre Staaten mittlerweile auf eine mehrdimensionale Legitimität angewiesen sind (Demokratie, Leistung, Reflexion). Sie legitimieren sich über vielfältige Möglichkeiten der Einsetzung und Partizipation, über ihre Nähe zu den Lebenswelten der Gesellschaftsmitglieder, über ihre Identifikation mit der Allgemeinheit, ihre Unparteilichkeit, ihre Unabhängigkeit und ihre Reflexivität.



Anmerkungen

[1] Dieses Verständnis von Autorität ist sehr niederschwellig. Autorität setzt darin keine moralische Fundierung voraus, sondern kann auch lediglich durch Androhung von Gewalt bestehen. Für voraussetzungsreichere Autoritätsbegriffe vgl. Arendt (1957) oder Estlund (2008).

[2] Es ist wichtig anzumerken, dass diese Beschreibung des Populismus rein formaler Natur ist. Es wird lediglich festgehalten, wie Populisten ihre Anliegen rhetorisch vorbringen, nämlich auf eine konfrontative Weise, die ein «Wir» gegen «Die (da oben)» beinhaltet. Das schliesst keineswegs aus, dass die vorgebrachten Anliegen inhaltlich korrekt sein und eine gewisse Berechtigung haben können. 

[3] Dieser Zusammenhang ist inspiriert durch Mueller (2019). Muellers Ansatz greift meiner Ansicht nach allerdings zu kurz, weil er nur ein einziges unterkomplexes Verständnis staatlicher Legitimität berücksichtigt, nämlich dasjenige, das ich weiter unten im Text als Glorifizierung des Volkswillens beschreibe. Er nennt das einen «normativen indexikalischen Majoritarianismus». Damit versteift er sich meines Erachtens zu sehr auf einen Populismus, der eher im rechten politischen Spektrum vorzufinden ist.

[4] Der theoretisch elaborierte Hintergrund dazu findet sich in erster Linie bei Pierre Rosanvallon (2010) sowie bei Estlund (2008) und Fabienne Peter (2009; 2023).

[5] Demokratische Legitimität, in dem hier verwendeten engeren Sinn, ist sicherlich eine notwendige Bedingung für eine gerechte liberal-demokratische Gesellschaft. Eine hinreichende Bedingung dafür ist sie allerdings nicht.

[6] Im Fall des Aufstiegs einer illiberalen oder demokratiefeindlichen Partei kann es durchaus zur Aufgabe von Forschenden gehören, diesen Umstand aufzuzeigen und auch gegen die Bestrebungen solcher Parteien selbst Partei zu ergreifen. Dazu ist ihre Unabhängigkeit essenziell. Im Fall einer gesundheitlichen Notlage kann es dagegen durchaus legitim sein, dass der Staat gewisse medizinische Forschung gezielt unterstützt. Es könnte auch legitim sein, dass er Staat gewisse Forschung im Bereich der Waffentechnologie unterbindet. In diesem Fall würde die Unabhängigkeit der Forschung tangiert, die Unparteilichkeit könnte dennoch bestehen bleiben.

[7] Diese Problematik unterscheiden sich je nach Demokratie. Während in der Schweiz die Vorstehenden der Verwaltungen noch überwiegend dazu angehalten sind, ihre parteipolitischen Ansichten hintenanzustellen und die Angestellten aufgrund ihrer Qualifikation weiter zu beschäftigen, ist es in Ländern wie der USA ein stärker Brauch – seit Trump wird dieser nun deutlich sichtbar – viele Verwaltungsstellen mit eigenen politischen Günstlingen zu besetzen.


Literatur

  • Arendt, H. (1957). Was ist Autorität? In Thomas Meyer (Hrsg.), Fragwürdige Traditionsbestände im politischen Denken der Gegenwart, digitale Neuauflage 2021, München: Piper.

  • Cerutti, F. (2017). Conceptualizing Politics. London: Routledge.

  • Estlund, D. M. (2008). Democratic Authority. Princeton: Princeton University Press.

  • Mudde, C. & Kaltwasser C. R. (2017). Populism: A Very Short Introduction. New York: Oxford University Press.

  • Mueller, A. (2019). The meaning of ‘populism’. In Political Studies 55(2), 405-24.

  • Peter, F. (2009). Democratic Legitimacy. New York: Routledge.

  • Peter F. (2023). The Grounds of Political Legitimacy. New York: Oxford University Press.

  • Rosanvallon, P. (2010). Demokratische Legitimität. Hamburg: Hamburger Edition.



 

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